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Der liebestrunkene Beduine

Ein Beduine lebt in der Salzwüste und kann mit dem ungenießbaren Brackwasser kaum überleben. Nach Jahren des Dürstens findet er zum ersten mal Trinkwasser und glaubt, es handele sich um das Wasser des Paradieses. Vom Glück überwältigt, füllt er seine Schale damit und bricht auf, um sie dem Kalifen Ma’mun zu schenken und belohnt zu werden. Tatsächlich trifft er den Kalifen, der gerade von der Jagd heimkehrt.
– Aus dem höchsten Himmel habe ich ein Geschenk gebracht für den Fürsten der Gläubigen.
– Was denn?
– Das Wasser des Paradieses, ruft der Beduine und hält dem Kalifen die Schale entgegen, darin eine warme, übel riechende Flüssigkeit. Ma’mun erkennt sofort, wie es um den Beduinen bestellt ist. Dennoch trinkt er aus der angebotenen Schale, ohne sich den Ekel anmerken zu lassen. Dann sagt er zum Beduinen:
– Wunderbar hast du das gemacht, so ein herrliches, klares Wasser. Es ist wahrlich das Wasser des Paradieses. Nun wünsche dir, was immer du willst.
Der Beduine schildert ausführlich seine elende Existenz in der Salzwüste und überläßt es dem Kalifen, ob der ihn belohne. Da schenkt der Kalif ihm tausend Dinar. Zu Bedingung stellt er allerdings, daß der Beduine sofort umkehre und sich nach Hause in die Salzwüste begebe, da sein Leben hier in Gefahr sei. Als der Kalif nachher gefragt wird, warum er die Bedingung gestellt habe, antwortet Ma’mun:
– Wäre er weitergezogen, so wäre er auf den Euphrat gestoßen und hätte die Wertlosigkeit seiner Gabe erkannt. Diese Beschämung wollte ich ihm ersparen, denn er kam ja von weit her, um mich zu sehen, und hat gegeben, was er zu geben vermochte.

Nachdem er die Geschichte des Beduinen erzählt hat, kommt Attar noch einmal auf  das weite Elend zurück, das in sein Herz dränge und sich täglich verdichte, so daß er aus Kummer über sich selbst am liebsten stürbe: Jede Nacht bringe ihm tausend neue Gaben aus Blut. Aus dem Salzland der Welt komme er, aus dem Staubwind vergeblicher Bitten, ein Schlauch voller Sehnsuchtstränen auf der Schulter. Möge Gott so gnädig sein wie der Kalif zu dem Beduinen. Und so formuliert der allerletzte Vers im „Buch der Leiden“ eine Hoffnung, die Hoffnung freilich der Hoffnungslosen: daß alles nur ein Alptraum sei.

An der Hand zieh mich, wenn du es kannst,
Aus diesem Wirrwar heraus, als wär‘ nichts gewesen.

Aus: „Der Schrecken Gottes“ von Navid Kermani