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Schlagwort: Gesellschaft

Resilieren

So neu ist das Wort Resilienz nicht, aber wir hatten neulich einen Schwerpunkttag an der Schule, an dem auch dieser Begriff eine wichtige Rolle spielte. Ich muss bei dem Wort resilient sehr stark an flexibel denken. Solche Wörter haben ganz schnell den Geschmack, als würde man sie von einem Chef gesagt bekommen. Soll heißen: Das sind solche Luftblasenwörter, bei denen nicht nur die direkte Bedeutung des Wortes oder die Situation, in der man es sagt, eine Rolle spielt, sondern auch das Wertegerüst und die Rolle im System der sie aussprechenden Person. Ein gut gemeinter Vorschlag zur Resilienzsteigerung klingt dann schnell nach einer Idee, wie man besser funktioniert.

Richard Sennetts über 25 Jahre altes (ulay!) Buch Der flexible Mensch kommt mir da in den Sinn: „Absolute Flexibilität bedeutet für den einzelnen, einer unvorhersehbaren Kontrolle durch wechselnde Dritte ausgesetzt zu sein.“ (Deutschlandfunk 1998) Kein Wunder, dass man heute die Leute resilienter machen muss, nachdem man sie vor einer Weile flexibler gemacht hat.

Ich hab mir jedenfalls vorgenommen, in Zukunft etwas mehr zu resilieren und auch mal Nein zu etwas sagen – wozu ich Nein sage, sehe ich dann, ganz flexibel.

Zivilisationsbrüche

Heute, einen Monat nach dem terroristischen Pogrom auf israelischem Boden durch Hamas, bin ich zur Gießener Synagoge spaziert. Auf der Tafel am Eingang erfährt man, dass sie ein Wiederaufbau der während der Novemberpogrome 1938 in Wohra zerstörten Synagoge ist. Auf der Seite des Deutschen Historischen Museums heißt es zu den deutschen Pogromen 1938:

Bevor die Gewalt in der Nacht vom 9. und 10. November im gesamten Reichsgebiet explodierte, war es bereits am 7. und 8. November zu antijüdischen Gewalttaten in Fulda, Kassel, Bebra und weiteren Städten gekommen.

Ich habe mir, als ich eben die Tafel vor der Synagoge las, die Frage gestellt, ob es noch bessere Wege gibt, an jüdisches Leben in Deutschland zu denken, ohne eine Synagoge aufzusuchen. Und womöglich würden sich Jüdinnen und Juden, die nicht religiös sind, gar nicht angesprochen fühlen, wenn man eine Kerze vor einer Synagoge entzünden würde – wohl fühlen sie sich aber vermutlich bei einem Brandanschlag auf eine Synagoge bedroht.

Mir fallen im Moment die Worte schwerer als sonst und das Beste, das ich hierzu gehört habe, habe ich aus dem Fernsehen: Extra3 im Oktober 2023. (Zur Einordnung des Statements hilft vielleicht auch dieser Beitrag: Christian Ehring 2014, zum damaligen Gaza-Krieg.)

Avignon

Willkommen in der Oligarchie
Aufruf zum Protest am 7. März
Übersetzerfragment I
Übersetzerfragment II

Glutomatismus aka „Brigittes iPad“

Bin gerade auf dieses ältere Video gestoßen, das ich unterhaltsam finde: Häuptling Erzhegel

Während ich in einigen Punkten zustimmen kann (z.B. der Welt möglichst ideologiefrei zu begegnen), muss ich feststellen, dass die beiden Gäste vielleicht einfach ein Problem damit haben, anzuerkennen, dass es viel mehr Leute gibt, die sich eine eigene Meinung gebildet haben, die ihnen aber nicht passt – und unterstellen diesen Meinungsträgern Konformismus. Im Grunde ist es ein Schimpftirade gegen alles zeitgeistige. Das ist es, was es so unterhaltsam macht.

Siehe auch: Die Kunst, ein Opfer der Kunst

Kulturelle Aneignung

Auf Youtube vertont ein Kerl Videos mit Metalmusik. Das passt manchmal richtig gut und ist unterhaltsam. Zum Beispiel zu einem Pig Calling Wettbewerb: Pig Calling Contest goes Metal. Oder auch Ausschnitte aus einer Meisterschaft zum Auktionieren: Auctioneer Championship goes Metal. Schräg fand ich dabei vor allem, was es so für komische Veranstaltungen und auffällige Verhaltensweisen von Leuten gibt. Letzteres nennt man Memes. (Wenn ich das Konzept richtig verstanden habe, geht es bei Memes darum, irgendwas zu Verballhornen und damit möglichst noch eine Botschaft zu verbinden. Unterhaltung und Message quasi verbunden.)

Besonders interessant, dass bei den Noorani Sisters die Vertonung beider Versionen gut passt: Als Red Hot Chili Peppers und als System of a Down. Ich weiß nun nicht, über welche Kultur das mehr aussagt – oder ob überhaupt.

Der Algorithmus führte mich dann hierzu: Dennis Chambers hears Tool for the first time. Das Internet ist voll von Leuten, die Dinge besser können als ich. Zum Glück gibts dann auch manche Memes, in denen Leute mit peinlichen Momenten berühmt werden, damit ich mich wieder besser fühlen kann.

Nachtrag: Mir kommt gerade der Gedanke, da das ein oder andere Video ganz gut die Belustigungs-Spirale – von der (evtl. peinlichen) Handlung bis ins Youtube-Wohnzimmer – und wie ich also auch Teil davon bin, zeigt, dass wir womöglich in einer Satire-Gesellschaft leben, die sich gegenseitig bis ins Unendliche karikiert. Da kann es schon – rein methodisch betrachtet – eine radikale Handlung sein, eine einfache Wahrheit auszusprechen.

Mittlere Reife

Gestern war ich in Gießen auf der Klimademo: „Weil man uns die Zukunft klaut“. (Der Gießener Anzeiger fasst alles Wesentliche gut zusammen.) Ich bin mit Anne erst am E-Klo zur Demo dazugestoßen und hatte auf dem Weg dorthin schon Sorge, dass sie ausgefallen wäre, weil keinerlei Verkehrsbehinderungen bemerkbar waren. Anne entdeckte in der Menge dann für mich schnell Jörg Bergstedt von der Projektwerkstatt. Den hatte, wenn ich mich richtig erinnere, Alexander einmal doppelt polemisch als die linke Dagegenopposition zum AStA bezeichnet, weil der im StuPa alle Listen immer mal wieder mit wirren Redebeiträgen etwas genervt hatte, ohne überhaupt gewählt worden geschweige denn Student gewesen zu sein. (Bei letzterem bin ich mir nicht so sicher.)

Vom E-Klo ging es dann zum Oswaldsgarten, wo sich der Pulk auf der Kreuzung niederließ, um den Redebeiträgen zu lauschen. Der erste war von einer Geographie-Studentin, die von ihrer Hausarbeit über Erdrechte erzählte. (Auf die Schnelle habe ich nur einen Bezahllink der FAZ gefunden, der sich kritisch damit auseinanderzusetzen scheint: Mutter Erde als Rechtsperson) Ich habe nicht immer alles verstanden, aber es klang ganz interessant. Die Rednerin wurde kurz von hupenden Autofahrern unterbrochen. Die haben nämlich auch mal gemeinsam Lärm gemacht. Ich war mir aber nicht sicher, ob nur als spontane Gegendemo aus Langeweile oder doch zur Unterstützung. (Vielleicht sollte man die nächste Klimademo als Autokorso machen. Damit könnte man den Stadtverkehr wirklich lahmlegen, wenn jede/r der 800 Demonstrant:innen ein einzelnes Auto führe. Symbolisch könnte dann ja den Autos der Sprit ausgehen, so von wegen Ende der fossilen Energieträger.)

Der nächste Redner war dann Jörg Bergstedt. Der stellte verschiedene seiner Dauerthemen vor, u.a. das Verkehrskonzept der Projektwerkstatt für die Stadt Gießen. Da sind viele Dinge ganz interessant. Ich hatte später trotzdem so meine Probleme mit einigen Leuten, die ich der Projektwerkstatt zuordne. Da waren Rufeanfeuerer, die mit niemandem sonst unterwegs waren. Da war auch das Gespräch von zweien, das Anne etwas mitgehört hatte, in dem sich die zwei darüber unterhielten, wie sie auf welchen kommenden Demos ihre Standpunkte unterbringen können. Und da war der Gesamteindruck, dass die FFF-Leute einfach viel lockerer, weniger verbissen waren. Vielleicht liegt das daran, dass diejenigen, die, wie z.B. die Projektwerkstättler, schon länger in der Aktivistenszene unterwegs sind, z.T. noch „ihre“ alten Inhalte unterbringen wollen und nicht die Jüngeren mal machen lassen. Diese manipulative Methode mag ich einfach nicht, gleich um welche Inhalte es geht.

Wer fehlte waren Vertreter:innen der politischen Parteien. Insgesamt waren aus meiner Sicht höchstens die Hälfte der Personen jünger, also Schüler:innen und Student:innen, die anderen waren Leute mittleren und reiferen Alters. Die Leute, die nicht da waren, konnten vielleicht nur deshalb nicht, weil sie Der Würgeengel noch zuende schauen wollten.

Mein Fazit: Wir Älteren sollten unbedingt darauf achten, nicht zu sehr aus einer Macht- und Erfahrungsperspektive auf die Jüngeren zu schauen. (Dem Sinn nach nicht diesen Fehler machen: Sieh mal, wie schön die Klimaschutz spielen!)

Bleibt nur noch die Frage: Wie kommt man ins Handeln?

Anlasslose Analyse und Traumdoxing

Diese Woche erging ja erneut ein Urteil zur Vorratsdatenspeicherung, das sie im Grundsatz für unrechtmäßig erklärt. Derweil bin ich durch Sascha Lobos Kolumne zum Thema auf einen Artikel von 2014 gestoßen: Selbstzensur durch Massenüberwachung: Wir werden uns nicht mehr wiedererkennen (von Peter Galison).

Ich hab mich dann daran erinnert, dass ich mir da schonmal drüber Gedanken gemacht habe, wie sich wohl die Aufklärung über Überwachungsmechanismen der Gegenwart auf das aufgeklärte Individuum auswirkt, sprich: sich das Verhalten ändert. Ob man da überhaupt was Sinnvolles tun kann, wenn man jungen Menschen entweder nicht erklärt, wie das Internet funktioniert oder sehr genau erklärt, wie es funktioniert. Vielleicht besteht ja die eigentliche Wehrhaftigkeit darin, sich nicht zu ändern trotz Überwachung.

In dem FAZ-Text gibt Galison Sigmund Freuds Beobachtungen im Rahmen von Traumdeutungen wieder, die ich unabhängig von alledem interessant finde:

Anfang Dezember 1915 hielt Freud seine Vorlesung über die Traumzensur. Etwa in dieser Zeit versah er die „Traumdeutung“ mit einem Zusatz, in dem er die Traumzensur während des Krieges direkt mit der Postzensur verglich. „Frau Dr. H. von Hug-Hellmuth hat im Jahre 1915 einen Traum mitgeteilt, der vielleicht wie kein anderer geeignet ist, meine Namengebung zu rechtfertigen. Die Traumentstellung arbeitet in diesem Beispiel mit demselben Mittel wie die Briefzensur, um die Stellen auszulöschen, die ihr anstößig erscheinen. Die Briefzensur macht solche Stellen durch Überstreichen unlesbar, die Traumzensur ersetzt sie durch ein unverständliches Gemurmel.“

In dem erwähnten Traum geht eine fünfzigjährige „feingebildete und hochangesehene Dame“ in das Garnisonsspital Nr.1 und erklärt dem Posten, sie wolle freiwillig „Dienst“ tun, betont es aber so, dass klar ist, dass damit „Liebesdienste“ gemeint sind. Sie sagt zu dem Posten: „Ich und zahlreiche andere Frauen und junge Mädchen Wiens sind bereit, den Soldaten (Gemurmel, Gemurmel).“ Aber in ihrem Traum wird sie von allen verstanden. Einer der Offiziere: „Gnädige Frau, nehmen Sie den Fall, es würde tatsächlich dazu kommen (Gemurmel).“ Und die Träumende etwas später: „Eine Bedingung müsste eingehalten werden…, dass nicht eine ältere Frau einem ganz jungen Burschen (Gemurmel), das wäre entsetzlich…“ Während sie auf einer schmalen Wendeltreppe in das Obergeschoss hinaufsteigt, hört sie einen Offizier sagen: „Das ist ein kolossaler Entschluss, gleichgültig, ob eine jung oder alt ist, alle Achtung!“

faz.net

Die gute Dame scheint also im Traum die wirklich peinlichen Stellen ausgepiept zu haben. Oder hat sie sich vielleicht auch nur gegenüber Freud nicht getraut, deutlich zu sagen, was sie da geträumt hatte und beim Berichten gemurmelt? Jedenfalls sind das ganz schön intime Details, die Freud da in die Öffentlichkeit über Hermine Hug-Hellmuth hinausposaunt hat.

Die wiederum ist laut Wikipedia von ihrem Ziehsohn Rudolf, eigentlich ihr Neffe, ermordet worden – wegen Geld und außerdem deswegen:

Die Tante habe ihn in seiner Kindheit und Jugend analysiert. […] Die Pionierarbeiten der Hermine Hug-Hellmuth auf dem Gebiet der Kinderanalyse beruhten vielfach auf ihren Untersuchungen an ihrem Neffen, den sie „prophylaktisch“ analysierte, obwohl sie eine nahe Angehörige des Kindes war.

de.wikipedia.org

Wer möchte, kann die Geschichte von Hermine Hug-Hellmuth als Parabel lesen, bzw. hier auch hören: br.de.

Projekt Pranger

Telegram has a serious doxing problem: Die Messaging-Plattform Telegram wird in verschiedenen Teilen der Welt verwendet, um private Informationen von Personen publik werden zu lassen, so genanntes Doxing. So zum Beispiel auch im Ukraine-Krieg, sowohl von ukrainischer („Ukrainians have been using Telegram to release the private information of Russian soldiers, politicians, and alleged collaborators and spies“) als auch von russischer Seite, da unter dem unheilvoll klingenden Namen Project Nemesis.

Project Nemesis includes a website publishing the photographs and personal details of hundreds of individuals fighting on behalf of Ukraine, including birth dates, addresses, telephone numbers, passport numbers, personal social media profiles and more. It also incorporates a Telegram channel which posts multiple times a day, highlighting particular individuals who have been doxxed on the site and encouraging their thousands of followers to mock or harass them. As of early June 2022, there are also indications of an effective media strategy to amplify Project Nemesis and further its goals.

isdglobal.org

Auf der Suche nach Project Nemesis bin ich dann auch auf eine Seite gestoßen, die unter diesem Namen eine vermeintliche zionistische Weltverschwörung aufzeigen will, quasi mittels öffentlich zugänglichen Quellen die Personen doxen will:

While it is widely known that organisations such as BDS and Hamas and countries such as Russia and Iran engage in both anti-Zionism and antisemitism, the identity of those behind Project Nemesis is hidden behind digital walls.

isgap.org

Der Pranger ist zurück, falls er denn je weg war.

Heureka!

Vor kurzem habe ich mir diesen Film angeseehen (bin 2x dabei eingeschlafen): Der Würgeengel. Die Handlung stellt sich mir so dar (Spoiler):

Eine gehobene Gesellschaft trifft sich zu einem geselligen Abend. Die Bediensteten des Villa (Koch, Kellner & Co) verabschieden sich unter Angabe von mehr oder weniger plausiblen Gründen rasch und lassen die Feiernden alleine im Haus. Diese können schließlich die Räume, in denen gefeiert wird, nicht verlassen. Ein Grund, der sie daran hindern würde, wird nicht ersichtlich. Weder ist eine Tür verschlossen noch sind sie verzaubert worden oder sowas. Sie sehen sich schlicht nicht imstande, zu gehen, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschen. Sie hausen dann in den Räumlichkeiten und man kann der Gruppe dabei zusehen, wie sie darum ringen, ihre Zivilisiertheit nicht zu verlieren. Schaulustige sammeln sich allmählich um das Haus, sehen sich außerstande, reinzugehen. Es laufen dann auch Lämmer und ein Bär durch das Haus. Der Gesellschaft gelingt es schließlich durch eine Art gemeinsamer Zufallserkenntnis durch Erinnerung an die Anfangssituation, das Haus zu verlassen. (Zu Beginn hatte eine der Personen geäußert, nun nachhause gehen zu wollen. Daran erinnerten sich nun die Leute und nutzen den Heureka-Moment und gehen aus dem Haus.) Das Ende stellt sich dann so dar, dass dieses mysteriöse Problem der Handlungsunfähigkeit auch andere gesellschaftliche Situationen/Gruppen befällt.

Der Titel leitet sich wohl aus der Bibel ab und bezeichnet einen von Gott gesandten Engel der Vernichtung. In manchen Übersetzungen wird der Engel, der die Erstgeborenen Ägypter als die krasseste der Zehn Plagen tötet, so bezeichnet. Andere übersetzen diesen Engel mit Verderber. (Siehe auch Offenbarung 9, 13-21.)

Verstanden habe ich den Film zunächst nicht. Dann hatte ich heute einen Moment der Erkenntnis und die surreale Handlung hatte kurz voll Sinn gemacht:

Der Film ist eine Art Parabel auf Gegenwartsprobleme einer Gesellschaft. Es ist nicht alles erklärbar, die Welt ist chaotisch und nicht zu begreifen – so wie der Auftritt von Bär und Lämmer. (Chaos ist glaube ein anderes Wort für komplexes System.) Dennoch weiß man im Grunde, was zu tun ist. Jeder will dieses Ziel erreichen und könnte es mit Leichtigkeit. Dass man es erreicht, scheitert allein daran, dass niemand den Mut hat, zu handeln.

Jetzt, da ich für diesen Beitrag ein wenig im Internet über den Film und dessen Deutung gelesen habe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Da haben viele Interpretationen auf gesellschaftliche Klassen angespielt (Adel und Kirche usw.). Das würde natürlich auch Sinn machen. Zum Glück hat sich Buñuel laut dw.com immer gegen eindeutige Interpretationen gewehrt:

In meinen Filmen gibt es ganz sicher keinen Symbolismus, aber auch keine Psychoanalyse. Ich hasse die Psychoanalyse.

Luis Buñuel

Jedenfalls erinnert mich die Handlung an einen Sketch von Monty Python. (Heureka! Der Ball muss ins Tor!)

Podcastnation

Während ich Sinnvolleres zu tun hätte, grüble ich nun seit einer Weile über eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen Podcast und Prokrastination. Jedenfalls sind Podcasts schon so „in“, dass die jungen Kolleg:innen an der Schule sie als Unterrichtsmethode verwenden. (Also wieder „out“?) Meine Kritik, dass Podcasts nur unter der Bedingung regelmäßigen Contents funktionieren – ähnlich wie ein Blog -, wurde ignoriert und das einmalige Projekt im Unterricht angegangen.

Ich habe den Eindruck, dass es in der letzten Zeit eine Schwemme an neuen Podcasts gegeben hat. Vielleicht entwickelte sich das parallel mit dem verstärkten Versenden von Sprachnachrichten. Über Letzteres entwickelte sich neulich ein Hashtag (das ist bei Twitter ein Begriff für „Diskussion“ oder „Aufregung“ oder „Provokation“) namens #Sprachnachrichten.

(Wenn mich jemand früge: Die Person, die eine Sprachnachricht versendet, zieht sich fein aus der Affäre, denn der andere muss jetzt die Leistung aufbringen, die wichtige von der unwichtigen Information zu trennen. Schreibend würde man sich wohl kaum die Mühe machen, einen Text zu verfassen, der 2-3 Minuten lang gelesen werden muss – Ulay, was leesen! – , um eine oder zwei relevante Infos darin zu verstecken. Aber klar, es gibt sicher auch Vorteile für den Hörer. Ich finde die ungewollten Informationen sehr unterhaltsam, wie z.B. wenn jemand während der Sprachnachricht seinen Bus verpasst oder sowas. Ein Problem bleibt natürlich die fehlende Durchsuchbarkeit.)

Könnte es sein, dass die Produzent:innen von Texten einfach schreibfauler geworden sind und deswegen eher jetzt Podcasts machen? Ein Vorteil könnte auch sein, dass der Text nun eben mehr „passiert“ und man den Inhalt nicht so auf den Punkt bringen muss.

Was ich ganz gut finde, ist, dass der Deutschlandfunk aus seinem Radioangebot Podcasts macht. In solch kürzeren oder längeren Versatzstücken erschafft er so durchsuchbares Radio. Da gabs jetzt in Studio 9 ein ganz gutes Gespräch mit Bernd Ulrich, das klang während der Autofahrt vorhin recht klug, was der so antwortete.

(Ich war mit Anne auf der Rückfahrt von Münster, wo wir auf ein Oddisee-Konzert wollten. Das wurde aber noch spontaner abgesagt. Also entschieden wir spontanst, uns gestern Abend bei unserem nicht stornierbaren Hotel die Zeit zu vertreiben.)

Es stellt sich mir in meiner Erinnerung so dar, als hätte Ulrich in dem Radiogespräch nebenbei nahezu sämtliche Gegenwartsprobleme mit dem Klimawandel verknüpft. Vielleicht wirkte es aber auch nur so klug, weil ich ja hauptsächlich noch Auto fuhr und wir uns nur nebenbei die Zeit vertrieben.

Können eigentlich nur Individuen prokrastinieren oder geht das auch bei ganzen Gesellschaften? Vielleicht wäre das ein moderner Problemlöseansatz, so nach dem Motto: OK, wir wollen (gefühlt: können) nicht das sofort Notwendige zur Bekämpfung der Erderhitzung tun, dann machen wir erstmal was anderes moralisch Sinnvolles und sorgen z.B. dafür, dass wir nicht so rassistisch sind.

Die „Diskussion“ um Disneys Arielle fand in einer anderen Folge auch Widerhall. Ich finde es ganz schön krass, wie viele Leute ihren Rassismus mit dem Unwillen zur Veränderung begründen. Was würde wohl Mermaidman von alledem halten? Und was würde Friedrich Merz von Meerjungfraumann halten?

Die Welt in 100 Jahren

Während wir gerade innerhalb kurzer Zeit wiederholt Zeitzeugen werden (fühlt sich nicht so gut an, wie es klingt), hat Anne an der Straße ein Buch gefunden und mir mitgebracht: Die Welt in 100 Jahren. Es handelt sich um eine Neuauflage eines Buches aus dem Jahr 1910. Zwei Passagen sind mir aufgefallen.

In einem Beitrag mit dem Titel Das 1000 jährige Reich der Maschinen blickt Hudson Maxim 4 Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkrieges in dem Abschnitt Was können wir prophezeien? selbstgewiss in die Zukunft:

Es gibt mancherlei, was wir trotz unserer Unzulänglichkeit bis zu einem gewissen Grade sicher voraussagen können. […] [Die Gegenwart] ist eine wissenschaftliche Epoche und eine Periode materieller Vollendung; ihr aber wird eine soziologische Zeit folgen, eine Aera der ethischen und philosophischen Vollendung und der Entwicklung einer höheren psychischen Kultur – kurz eine Reife der geistigen und moralischen Eigenschaften, die zu höchster Blüte gelangen werden.

Schon in der gegenwärtigen Zeit stehen wir, vom menschlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, auf einer ganz beträchtlich höheren Stufe als die Alten. In den alten Zeiten gab es keine Anerkennung von Dingen, wie beispielsweise unsere unveräußerlichen Menschenrechte es sind; und ein Volk, in dessen Macht es stand, ein anderes mit Erfolg zu berauben oder zu unterjochen, hielt es für eine Dummheit, ja für eine Schmach, es nicht zu tun und es nicht zu berauben und nicht in die Sklaverei zu schleppen. […]

Eine der größten Segnungen der modernen Zivilisation ist aber die Erweiterung der menschlichen Nutzbarkeit. Und man würde es heutzutage nicht nur als Grausamkeit, sondern geradezu als eine unverantwortliche Verschwendung an Menschenleben ansehen, wenn jemand über ein benachbartes Volk herfallen und es bis auf den letzten Mann niedermetzeln wollte.

Es ist eben glücklicherweise ein wachsendes Verständnis dafür da, daß die Welt, die wir bewohnen, nur ein einziges großes, einheitliches Vaterland ist. Der Patriotismus wagt sich jetzt schon über die nationalen Grenzlinien hinaus. Ein zunehmender Geist internationaler Verbrüderung ist vorhanden […].

Ein weiter Beitrag ist von Robert Sloss: Das drahtlose Jahrhundert. Im Abschnitt Das Ende von Raum und Zeit stellt er sich die Zukunft u.a. so vor:

Es wird keine Zeit und keine Entfernung mehr geben, und einer Katastrophe wie der jüngsten von Messina und Kalabrien werden wir alle beiwohnen können, sicher in unserem Hause sitzend, wo immer dieses auch steht. Wir werden einfach auf drahtlosem Wege uns mit der Unglücksstätte verbinden lassen, und wer an dem Anblick allein nicht genug hat, sondern die Sensation furchtbarer Art ganz wird auskosten wollen, der wird, wenn er will, auch das Angstgewimmer der Leute, das Verröcheln der Sterbenden und die Schreie der Hungrigen und die Flüche der Irrsinnigen hören. Jedes Ereignis werden wir so mitmachen können.

Zu seinem Beitrag wurde diese Zeichnung von Ernst Lübbert veröffentlicht. Ich finde sie ganz spannend. Die 4 Grazien tanzen wie Satelliten einen geisterhaften Beschwörungstanz um die Erde:

Laut Wikipedia wurde Ernst Lübbert zu Beginn des Ersten Weltkriegs einberufen und trat „von patriotischen Gefühlen erfüllt“ im August 1914 den Dienst an. Ein Jahr später kam er in Hrodna, im heutigen Belarus durch einen Bauchschuss ums Leben.

Danke Merkel!

Ein hörenswerter Beitrag darüber, wie wir Menschen um Wahrheit zu ringen scheinen: Über alternative Fakten, Wissenschaftsskepsis und Verschwörungsdenken.

Mir gefällt, wie Argumentationsmuster dargestellt werden. Ein zeitgenössischer Querdenker blufft demnach, wenn er kritisch hinterfragt. Er hat nämlich gar kein Interesse an der Wahrheit sondern verfolgt andere Ziele. Als Beispiel wird der Umgang mit dem Klimawandel im ausgehenden 20. Jahrhunderts genannt (1970er Jahre: Wie Exxon den Klimawandel entdeckte – und leugnete).

Ich musste dabei dann an zwei Dinge denken:

Zum einen kommt mir die mediale Präsenz von Wissenschaftlern wie Streeck als eine Inszenierung vor. (Wo sind da die Verschwörungstheoretiker, wenn man sie braucht?) Allerdings bin ich von diesem Youtube-Video beeinflusst worden: Corona-Pandemie mit Hendrik Streeck.

Zum anderen hab ich vor etwa einem halben Jahr bei einem Ausflug mit einem Kollegen ein Streitgespräch über Adorno angefangen. Der Kollege war eher Gegenwartspessimist und schüttelte mit dem Kopf, als er etwa feststellte, was bloß aus dem Land der Dichter und Denker geworden sei. Er hatte die Dialektik der Aufklärung offensichtlich nicht gelesen und Adorno unterstellt, für die ganze Misere gerade (Adorno -> 68er Bewegung -> Ur-Katastrophe der Gegenwart) verantwortlich zu sein. Dem musste ich widersprechen, weil es ja Adorno darum gegangen war, zu erklären, wie es im Land der Dichter und Denker zu so etwas Barbarischen wie dem Holocaust kommen konnte. Der Kollege gestand ein, dass er Adorno nie gelesen hatte. Er hatte also nur geblufft. Das Problem an der Geschichte: Ich hatte es zwar geleesen, die wesentlichen Schlussfolgerungen habe ich aber von Alexander übernommen, also auch nur geblufft.

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Wolf im Wolfspelz

Da fällt mir ein Aphorismus ein, frei nach Anne: Der Ballweg ist der Bachmann des Westens. (Ok, nicht so gut wie Leipzig ist das Berlin des Ostens.)

Und zum Schluss noch eine Bauernweisheit:

Mal hältste den Kürbis,mal biste der Kürbis: https://twitter.com/glr_berlin/status/1299739147708641281?s=20

Freiheit

Mal ein kurzer Gedanke zur Diskussion um die Lockerungsmaßnahmen derzeit in Deutschland:

Mir fällt auf, dass es in der Diskussion allgemeinhin um das Abwägen zwischen Freiheit des Einzelnen (im Sinne von Möglichkeiten) und dem Schutz des Lebens geht. Das ist meiner Meinung nach etwas fadenscheinig, schließlich nähme ich mit der Ausbreitung des Virus den Menschen, die sich mehr Sorgen um die Krankheit machen müssen als andere, viele Möglichkeiten. Es geht also eher um das Abwägen zwischen den Freiheiten der unterschiedlich durch das Virus bedrohten Menschen.

Das verändert den Blick auf die Diskussion wesentlich.

Hu-Hu-Hufeiseneinsatz

Hier wird erklärt, warum die ‚Mitte‘ Gefahr läuft, der ‚Rechten‘ auf den Leim zu gehen: Links, rechts, Weimar? Ich hab hier mal drei Textstellen willkürlich rausgeleesen:

Wer die Demokratie bewahren wolle, müsse die „Mitte“ stärken. Politikwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der Hufeisen-Theorie, der zufolge die politische Mitte links und rechts in Extreme ausläuft, die sich wie die Enden eines Hufeisens einander nähern.

[…]

Nicht der demokratische „Mainstream“ ist links, sondern der „Mainstream“ innerhalb der Linken (verkörpert durch SPD und Linke) ist demokratisch – anders als in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren, als die KPD die Republik von links bekämpfte. Der heute von rechts angeheizte Verdacht, dass die Meinungsfreiheit in Gefahr sei und Deutschland unter der Knute einer tugendterroristischen „Political Correctness“ stehe, fußt auf der demagogischen Verkehrung dieser Tatsache. Das Hufeisen mit seinem trügerischen Rechts-links-Schematismus steht den Rechten dabei treu zu Diensten: Den Bereich des Sagbaren nach rechts zu erweitern, wie es die AfD und andere betreiben, kann auf der Folie der Hufeisen-Theorie als Wiederherstellen eines vermeintlich aus dem Lot geratenen Gleichgewichts erscheinen.

[…]

Die Ideologen der neuen Rechten […] kennen übrigens das Modell des Hufeisens, und zwar in seiner ursprünglichen Lesart. Geschmiedet haben es nämlich nicht der Verfassungsschutz oder Extremismus-Experten: Es taucht bereits in der späten Weimarer Republik auf, um die Mitte zu verorten, die den nationalbolschewistischen Querfront-Propagandisten vorschwebte. Diese lag im offenen Raum zwischen den Enden Bolschewismus und Nationalsozialismus und stand der „bürgerlichen Mitte“ im Hufeisenrund feindselig gegenüber. Nach 1945 griff der Vordenker der heutigen neuen Rechten, der Publizist Armin Mohler, das Schema auf.

Siehe auch: Ach, du alle Welt

Heißt es „sich informieren“ oder „informiert werden“?

Ich mache mir in der vergangenen Zeit immer mehr Gedanken dazu, wie wir unsere Informationen beziehen. Ständig begegnen einem Begriffe wie Fake News, alternative Fakten oder sowas Schönes wie das postfaktische Zeitalter.

Ihr kennt vielleicht dieses Bild von dem am Boden sitzenden Soldaten, zwei weitere, anders uniformierte, stehen neben ihm. Betrachtet man nur den rechten Bildausschnitt, sieht man, dass ein Soldat dem sitzenden Wasser gibt. Sieht man nur den linken Ausschnitt, wirkt es so, als werde der sitzende Soldat in Kürze exekutiert. Das ganze Foto stellt die Szene dann in ein anderes Licht.

Etwas Ähnliches ist mir gestern mit einem Video passiert, auf das ich beim Stöbern zufällig gestoßen bin. Bodo Ramelow wird da von Jung&Naiv interviewt und vermeintlich bricht er das Interview am Ende entnervt ab. Im Tweet wird der Videoausschnitt u.a. mit „Zustand von Politik und Presse 2019“ kommentiert. In den Antworttweets werden Assoziationen zum ZDF-Interview mit Höcke gezogen. Wenn man sich allerdings das Videointerview mit Ramelow komplett ansieht, wird schnell klar, dass das Gesamtbild sich differenzierter darstellt. Ramelow bricht das Interview zwar ab, kommt anschließend aber nach einem klärenden Gespräch zum Interview zurück.

Ob das Bild der Soldaten, das Ramelow-Video oder unsere sonstige ausschnitthafte Wahrnehmung der Welt – der Trick ist: Selbst das ganze Bild ist nur ein kleiner Ausschnitt und insofern nicht das gesamte Bild.

Ein weiterer spannender Gedanke ist die Frage, wie die neuen Medien unser Entstehen eines Konzepts von „Öffentlichkeit“ prägen. (Wie beantwortet jeder Einzelne die Frage: Wer sind wir?) Ich vermute, dass Kommentare in offenen und auch geschlossenen Gruppen (@Die_Insider) da nicht unwesentlich sind. Ich vermute auch, dass dieser Satz sich längst selbst überholt hat: „Wir leben in einer Zeit, in der die Übertreibung das einzige Medium der Wahrheit ist.

Nachtrag:
Revealed: quarter of all tweets about climate crisis produced by bots

Autobahn 2

Zum Thema Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen wird ja derzeit wieder fleißig diskutiert. Ich finde, schnell Fahren macht Spaß. Seit ich mir angewöhnt habe, höchstens 120km/h zu rasen, macht das Fahren auf der Autobahn noch viel mehr Spaß. Ich empfehle zum Thema die Studie AUSWIRKUNGEN EINES ALLGEMEINEN TEMPOLIMITS AUF AUTOBAHNEN IM LAND BRANDENBURG. Im Resümee liest man:

Bei einer Begrenzung der Geschwindigkeit auf 130 km/h entstehen 22,5 Mio. EUR im Jahr weniger Unfallkosten auf den aktuell noch unbegrenzten Streckenabschnitten. Demgegenüber stehen zusätzliche Zeitkosten von 17,2 Mio. EUR, die durch die längeren Fahrzeiten entstehen. Damit würde sich ein jährlicher Nutzen von rund 5,3 Mio. EUR ergeben, wenn die Geschwindigkeit der Pkw auf 130 km/h begrenzt wird.Eine stärkere Begrenzung der Geschwindigkeit auf 120 km/h senkt die Unfallkosten deutlich um 36,7 Mio. EUR auf 54,4 Mio. EUR im Jahr. Durch die geringere Geschwindigkeit erhöht sich jedoch die Fahrzeit weiter und verursacht zusätzliche 37,3 Mio. EUR Zeitkosten, so dass es keinen wirtschaftlichen Auswirkungen bei einer Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h gibt.

https://mil.brandenburg.de/cms/media.php/lbm1.a.2239.de/studie_tempolimit.pdf

Lustig war auch das, was einer mal auf Spiegel Online geschrieben hatte: Ja zu Tempo 200!

Das Tempolimit von 200 km/h würde die Autobahnen von Möchtegernrennfahrern befreien, ohne Einheimische stark einzuschränken. Wer das Erlebnis von 250 oder 300 km/h und mehr braucht, kann sich eine Tageskarte für den Nürburgring kaufen.

https://www.spiegel.de/auto/aktuell/tempolimit-ja-aber-wenn-dann-200-statt-120-a-1244542.html

Interessant, dass der Beitrag etwa 1 Jahr alt ist. Gibt es so etwas wie ein Winterloch?

Kingdome Come

Lese gerade J. G. Ballards Das Reich kommt von 2006 und bin von seiner Weitsicht beeindruckt, wenn er über die Masse schreibt:

Sie wussten, dass sie angelogen wurden, doch wenn die Lügen hinreichend schlüssig waren, dann definierten sie sich als glaubhafte Alternative zur Wahrheit. Emotionen beherrschten nahezu alles, und Lügen wurden von Emotionen angetrieben, die vertraut und hilfreich waren, wohingegen die Wahrheit harte Kanten hatte, die schnitten und schrammten.

Mozambique

Während nach der Flutkatastrophe in Mosambik, ausgelöst durch einen Zyklon, etliche Spendenaufrufe erfolgten und Deutschland schließlich 50 Millionen € für den Wiederaufbau spendete, brennt in Frankreich ein Haus halb ab, Ave Maria wird voller Bestürzung gesungen und in kürzester Zeit kommen an die 1 Milliarden € Spenden für den Wiederaufbau zusammen.

Wer mich jetzt zynisch findet, denkt bitte nochmal nach, was an der Sache selbst zynisch sein mag.

PS: Vielleicht wird der Kaffee an der Notre Dame ja jetzt billiger.

Wartezimmer

Ich saß neulich beim Arzt im Wartezimmer. Da ist mir aufgefallen, dass es dort eine stille Übereinkunft bestimmter Verhaltensweisen gibt.

  • Das Grüßen geht nur vom Eintretenden aus, nie von den Wartenden.
  • Man redet grundsätzlich nicht – es sei denn, man kennt sich, dann muss man reden.
  • Gespräche zwischen zwei einander unbekannten, die manchmal aus einem konkreten Anlass beginnen, brechen abrupt ab, wenn eine bestimmte Intimitätsebene erreicht wird.
  • Kinder kennen diese stillen Übereinkünfte nicht.

Kurz: Verhalte dich wie in der Sauna.

Preisfrage: In welchen (halb-)öffentlichen Räumen gelten diese Regeln noch? Tipp: Der Fahrstuhl ist es nicht.

Autobahn

Unter verschiedenen Artikeln auf Spiegel-Online gibt es ja immer wieder eine Kommentarfunktion. 5 Beiträge pro Kommentarseite werden da jeweils angezeigt. Ratet, welches Thema besonders stark kommentiert wurde. Richtig: Klimaschutz –
Regierungskommission schlägt Tempolimit auf Autobahnen vor. Oder wird dieser frischere Artikel noch gewinnen: „Lehrende“ statt „Lehrer“ –
Hannover führt gendergerechte Sprache ein.

Was sagt uns das? Vermutlich weniger, als unser Gehirn sich so denkt.

Siehe auch:

Klimaschutzpolitik – Zusammenzucken beim Thema Tempolimit

Limit auf Autobahnen – Ja zu Tempo 200! (Oje…)

Bikes vs Cars

Zur Diskussion: Tempolimit auf deutschen Autobahnen – Freiheitsbeschränkung oder Umweltschutz?

Klubkultur

Neulich habe ich beim Frühstücken am Nachbartisch dem Gespräch einer 5er Normcore-Runde gelauscht. Demnach sei der Kitkatclub in Berlin wärmstens zu empfehlen. Schließlich hätten dort alle nackt getanzt. So ein Laden fehle Hamburg. Da müsse man sich heute mit dem Urknall eben zufrieden geben. Er habe ja neulich sich um 2h schlafen gelegt, den Wecker früh gestellt, um um 8h wieder weiterzufeiern. Doch bereits um 11h habe seine Freundin gesagt, sie sei müde und müsse nachhause. Das hätte sich voll nicht gelohnt. Als ich noch überlegte, ob ich ihnen den Consciuos-Club empfehlen solle, war die Gelegenheit schon vorbei.

Mich erinnert das an die 58-Stunden-Silvesterparty im Berghain und den Workshop zur Clubkultur auf dem letztjährigen Artlake-Festival. Der Rat des grimmigen Polizeibeamten, den ich ebenso nebenbei im Friedrichshainer Kiez wenig später belauschte, hätte ihnen wohl nicht gefallen: No club today, no club tomorrow.

#Hashbeck

Zur Causa Robert Habeck habe ich ja schon früher etwas geschrieben:

Außerdem zitiere ich hier einen Kommentar zum Thema, ohne zu wissen, ob ich dem zustimme:

In einer Welt, in der meine Intimität — alle meine mich ausmachenden Emotionen und Gedanken — veröffentlicht würde, herrschte wohl das schlimmste Terrorregime, das man sich vorstellen kann. Wir wären wie beim Verhör, nur dauernd, einer derartig grellen Durchleuchtung ausgesetzt, die man nicht mehr als Licht der Öffentlichkeit bezeichnen kann. Die Welt wäre zu einem total überwachten Lager geworden. Darum ist die Macht, die die Sozialen Medien schon jetzt über uns haben, nicht nur Ausdruck unserer persönlichen Freiheit, sondern ebenso einer Unfreiheit.

Esut

Diego drängt mich, etwas über die Causa Özil zu schreiben. Ich tue mich da schwer. Schließlich habe ich noch Ferien. Außerdem sagt da ja jeder was zu, da wird schon was Kluges dabei gewesen sein.

Dennoch will ich auf wenige Dinge in diesem Zusammenhang hinweisen:

  • Das Thema kochte meiner Meinung nach so hoch, weil den verschiedenen Standpunkten jeweils in Teilbereichen Recht gegeben werden kann – wenn man denn mal den harten rassistischen Scheiß rausgedröselt hat.
    (Die allergrößte Scheiße heißt: unpolitisch.)
  • Dass es jetzt viel um Rassismus geht, ist zu begrüßen. #MeTwo
    (Wäre das auch ohne Sommerloch der Fall?)
  • Vom Ergebnis her blieb die deutsche Nationalmannschaft bei dieser WM deutlich unter den allgemeinen Erwartungen, es wurde jedoch nicht sofort ein Schuldiger ausgemacht – bis DFB-Präsdient Grindel sich zu Wort meldete und Özil so irgendwie ein bisschen die Schuld geben wollte.
    (Unangenehme Wahrheit 1: Vielleicht waren die anderen Mannschaften einfach besser.)
  • Wenn im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea Hummels Kopfball reingegangen wäre oder Gomez seinen Fuß anders gehalten hätte, wäre die Deutsche Nationalmannschaft wohl nicht in der Vorrunde ausgeschieden.
    (Wäre Özil dann auch zurückgetreten?)
  • Fußball hat vielleicht mehr mit Glück zu tun, als jene denken, die nach dem Ausscheiden nach Verantwortlichen und Konsequenzen suchen.
    (Unangenehme Wahrheit 2: Man müsste sich dann konsequenterweise eingestehen, dass der vergangene Weltmeistertitel auch glücklich gewesen war.)

Wer sich damit weiter beschäftigen möchte – es ist schließlich nicht vorbei, denn im September wird entschieden, ob die EM 2024 in Deutschland oder der Türkei stattfinden wird -, kann z.B. hier lesen:

– Botschafter wider Willen? Fußballer im Kontakt mit Politikern – Text  von Illker Gündogan (Ilkays Bruder) am 29.5.
„Die Debatte ist obsolet“ – Interview mit Serdar Somuncu am 23.7. (Danke Diego)
Wir schweigen Extremisten an die Macht – Kolumne von Sascha Lobo am 25.7. (und der dazugehörige Debatten- und Reflexions-Podcast)
Der Fall Özil: Entmystifizierung des Fußballs? – Gespräch mit Dietrich Schulze-Marmeling und Haci Halil Uslucan am 29.7.
 Rassismus ohne Rassen – Wikipediaeintrag mit weiterführenden Links
– Nachtrag: Sprachforscher: Rassistische Rhetorik wirkt über Wiederholung – Jobst Paul am 30.7.

 

Diese Pointe Islam.

Disclaimer: Dieser Text behandelt religiöse Themen! (Atheisten oder Agnostiker mit schwachen Nerven seien gewarnt.)

Am Montag besuchte ich in weiblicher Begleitung eine kleine Wanderausstellung der Ahmadyya-Gemeinde Deutschlands im Marburger Rathaus zum Thema Islam. Einer der Ausstellungsbetreuer sprach mich ziemlich schnell an, bevor ich mir auch nur eines der im Raum ausgestellten Roll-ups (s. auch: Public Viewing) durchlesen konnte, die – bis auf zwei spezielle Ahmadyya-Themen zu Kalifen&Co –  größtenteils mit eher allgemeinen Islaminformationen gefüllt waren. Das fanden wir im Nachhinein ziemlich praktisch – ulai, was leesen! So erfuhren wir zum Beispiel, ohne ein Wort lesen zu müssen:

Abdul Basit Tariq, Imam der Ahmadiyya. Der Glaube an eine Art „hauseigenen Kalifen“ bricht das islamische Dogma, dass auf Muhammad kein weiterer Gesandter mehr folge. Damit hat sich die Gemeinde die Ablehnung der übrigen Muslime zugezogen. Im Ursprungsland der Bewegung, Pakistan, verfolgt man die Ahmadis als Ketzer. Sie scheinen Altbekanntes neu zu deuten: Jesus sei nicht am Kreuz gestorben, sondern wurde 120 Jahre alt. Vor allem wollen sie eines, behaupten die Ahmadis: Verständigung und Frieden. (Deutschlandfunkkultur)

Sowas hier hat er uns allerdings vorenthalten:

Hiltrud Schröter: „Die Ahmadiyya ist eine millenarische Kalifat-Bewegung mit der Ideologie vom Endsieg und mit Großmachtfantasien. Zum Beispiel sagte der jetzt regierende fünfte Kalif: Alle göttlichen Anweisungen von Adam bis Jesus sind im Koran enthalten. Der Sieg wird uns geschenkt werden. Die Ahmadiyya wird die Oberhand auf der ganzen Welt erzielen. Das wurde dann noch erläutert. Die Oberhand werde auf der ganzen Welt in 300 Jahren erlangt sein. Die Ahmadiyya ist weltweit bereits aufzufinden in sämtlichen Erdteilen und zwar ist sie nach neuesten Angaben bereits in 190 Ländern und hat insgesamt 14.000 Moscheen bereits erbaut. Das alles in den gut 100 Jahren.“ (ebd.)

Das Gespräch war inhaltlich sehr informativ und später intensiv. Insbesondere als wir Fragen zur Frauenrolle in deren Gemeinden stellten, wurde es dann zu einem höflichen Streitgespräch. Die Begründung, warum eine Frau keine Imamin werden kann, hat mich nicht überzeugt (musste es ja auch nicht): Während der Menstruation dürften Frauen nicht beten. Und was wäre das für ein Imam, der nicht ständig für seine Gemeinde da sein kann? Für mich klang das im Gespräch dann noch öfter nach Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein weiterer Betreuer aus Gießen gesellte sich noch dazu und merkte an, dass seine Schwester im Jugendalter beschlossen habe, kein Kopftuch mehr zu tragen. Das sei in Moschee und Familie kein Problem gewesen. Er merkte aber auch an, dass dies bei Gemeinden auf dem Dorf unter Umständen anders sein könnte.

Das würde übrigens meine Beobachtung vergangener gesellschaftlicher Entwicklung bestätigen, dass wir in Wahrheit keine echten Konflikte zwischen Geschlechtern, ‚Rassen‚, Generationen, zwischen Gutmenschen und Stammtischdeutschen, Fleischessern und Veganern etc. haben. Vielmehr sind dies nur Schlachtfelder der Anschaungen zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung. (Da, wo unterschiedliche Menschen miteinander besser und häufiger in einen Austausch kommen können, kann auch besser und häufiger gegenseitiges Verständnis entstehen.) Ich muss nämlich ehrlich sagen, dass ich solch ein ähnliches Gespräch auch mit jemandem in Wissenbach hätte führen können. Patrick bestätigte mich am nächsten Tag: In der FEG in Wissenbach seien weibliche Pastoren eher nicht erwünscht. (Ein Blick auf die Liste der Prediger bestätigt das. Der einzige weibliche Name ist die ehemalige Pfarrerin der evangelischen Kirche.)

Am Schluss des Gesprächs in der Ausstellung war ich dann ein bisschen fies – und hab den Ahmadis die Hand ausgestreckt. Ich wollte nämlich kucken, ob sie ihrer weiblichen Gesprächspartnerin danach auch die Hand schütteln würden. Hamse gemacht. Den zögerlichen Widerwillen interpretierten bestimmt meine Vorurteile in ihre Gestik. Ich fand es jedenfalls schade, dass ich nur männlichen Gemeindemitgliedern die Hand hätte schütteln können. (Das habe nur am Tag gelegen, so ein Gesprächspartner.)

Insgesamt waren mir die religiösen Ansichten der beiden freundlichen Ahmadis zu dogmatisch. Ich bekam den Eindruck, dass es im Grunde für alles eine Verhaltensregel gebe. Mein Gedanke dazu war: Wenn Gott auf die Freiheit des Einzelnen pfeifen würde und es ihm wichtig wäre, dass sich seine Menschen an ein detailiertes, für jede Eventualität gewappnetes Regelwerk hielten, tja, dann wäre es doch am effektivsten, wäre er höchstpersönlich anwesend und würde in seiner Allmacht jedem Menschen immerzu das Passende sagen: „Mach das. Lass das. Leg das weg. Jetzt nicht beten, du blutest.“ Und nicht sowas:

Jesus sprach nun zu den Juden, welche ihm geglaubt hatten: Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. (Joh 8, 31f)

Eugen Drewermann hat, wenn ich mich richtig erinnere, in seiner Übersetzung des Johannesevangeliums die Wörter wie „Juden“, „Schriftgelehrten“ oder „Pharisäer“ mit Gottesbesitzer übersetzt. Ich glaube, weil er damit deutlich machen wollte, dass es nicht um die Herkunft dieser Personengruppen sondern um deren Verhalten geht, wenn sie dogmatisch genau wüssten, was Gottes Wille sei. Das ist aber nur meine Lesart.

Für die Wahrheit kann nur streiten, wer sie nicht besitzen will.

Weltbienenrat

Im DLF gibt es ein Interview zu Bienen und ökologischer vs industrieller Landwirtschaft. Darin gibt es einen lustigen Versprecher, als der Bienenexperte „Weltagrarrat“ sagen wollte. Die von der Weltbank beauftragten wissenschaftlichen Untersuchungen kämen zu dem Schluss, dass langfristig die Weltbevölkerung nur ernährt werden könne, wenn die Landwirtschaft folgende Bedingungen erfülle:

  • minimaler Pestizideinsatz
  • keinen Kunstdünger
  • keine gentechnisch veränderten Pflanzen
  • regionale Produktionsmethoden

Ausgangsfrage war demnach von der Weltbank folgende: Wo sind die größten Risiken der Weltwirtschaft in Zukunft? Antwort: Hungerrevolten.

Derweil kann man sich auch fragen, wie viel Wasser beim Sojaanbau in Brasilien dafür draufgeht, dass ich ein Rindersteak esse. Stichwort: Virtuelles Wasser, wie Diego heute morgen sagte, als wir über Steuerungsmechanismen und Verantwortung in Bezug auf Nachhaltigkeit sprachen. Ich finde es dabei irgendwie Augenwischerei, wenn dem Verbraucher die Verantwortung für ökologisches Bewusstsein in die Schuhe geschoben wird. Das dachte ich mir schon beim Film zum Thema Landgrabbing, den ich im Januar auf der Globale gesehen hatte. Kann der Weltbienenrat nicht mal eine Nachhaltigkeitssteuer auf sämtliche Waren erheben, die sich nach langfristigen Kriterien richtet?

Iiiiih, Mobilität!

Bei Andreas‘ neuem Auto, einem Hybrid-Passat, hat mich tatsächlich dieses Active Lighting System am meisten beeindruckt. Auch wenn ich zugeben muss, dass der kombinierte Antrieb auch schick ist. Vielleicht kauf ich mir ja den kürzlich auf heise vorgestellten kommenden Audi e-tron. Dort werden mich dann vermutlich die digitalen Außenspiegel am meisten beeindrucken.

Wusstet ihr, dass (zumindest in Deutschland) das Stromtanken nach Zeit und nicht nach kwh, also Aufnahmemenge, berechnet wird? Ich nicht. AC-Laden dauert länger und kostet deutlich weniger als das schnelle DC-Laden. Vielleicht hängt das mit den Kosten für die entsprechende Infrastruktur zusammen. Oder es dient dazu, in Zukunft mit diversen Tarifmodellen Stromtanken noch gewinnbringender zu vermarkten. Denn wer sich für 80.000 € ein Elektro-Auto leistet, tankt dann vielleicht auch häufiger DC. Aber ich hab ja keine Ahnung. Auch davon nicht, was die Blockchain-Technologie mit dem Ganzen zu tun hat.

Derweil kann man natürlich das Ökologiefass aufmachen und fragen, wie umweltschonend der Akku-Einsatz ist. Dieser ganze Energiebilanz-Hype ist, glaube ich, recht neu. Ich finde die Betrachtung zwar wichtig, wundere mich aber, wieso niemand schon früher auf die Idee gekommen ist. Wird das z.B. mit Kohlekraftwerken auch berechnet? Wie viel CO2 wird bei der Herstellung eines Kohlekraftwerks verbraucht, fragt das jemand? Und wie hoch ist der zusätzliche CO2-Ausstoß durch die Leute, die in einem solchen Kraftwerk arbeiten und dahin pendeln müssen im Vergleich zur Herstellung und Unterhaltung von Windkrafträdern? Da wird die Argumentation schnell scheinheilig, finde ich.

Jedenfalls finde ich es wichtiger, den Öffentlichen Personennahverkehr auszubauen, als auf Akku-Mobilität zu setzen, solange es noch keine flächendeckenden autonomen E-Carsharing-Plattformen gibt. Und die daraus resultierenden Stadtarchitekturplanungsänderungsmöglicheiten wären noch ein ganz eigenes Thema. (Diego merkte dazu mal an, dass er es da für wesentlicher hält, die Arbeitszeiten zu flexibilisieren.)

Nachtrag (23.4.): Interview zur Berücksichtigung von Fußgängern bei der Stadtplanung

Angst Essen Google Auf

Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einer Schülerin über ihr vergangenes Prüfungsthema, digitale Demenz. Ich fragte mich, was sie damit meinte. Ob es in die Richtung von Manfred Spitzers Behauptungen Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (E-Book Version kompakt, für die Denkfaulen, tolles Marketing!) gegangen ist? Seine Thesen scheinen übrigens hohe Wellen geschlagen zu haben: OK, Google, Where Did I Put My Thinking Cap? Man könnte da aber auch etwas neutraler vom Internet als externem Gedächtnis sprechen. Oder Supergehirn.

Oder meinte meine Schülerin mit dem Begriff digitale Demenz nicht analoge Ignoranz, sondern dass das Internet – und damit womöglich auch die Menschheit – ständig Dinge vergesse? (Zur Erklärung: Diego hat neulich in der Berghainschlange festgestellt, dass die meisten externen Links auf der AKBp-Seite nicht mehr funktionieren. Soo lange ist das mit dem AKBp nun auch nicht her, siehe Gründungsmythos.) Dabei wird das Internet ja hier irgendwie gespeichert: The Wayback Machine. Die Frage ist nur, ob das als Gedächtnis zählt. Eigentlich wird da ja nicht ein komplettes Netzwerk gespeichert. Vielleicht ist das ein bisschen so, als würde ein Mensch immer alles aufschreiben, aber nicht verknüpfen und sortieren. Ein Gedächtnis funktioniert also eigentlich nur mit einer Instanz, welche die Erinnerungen sortieren und aufbereitet darbieten kann. Sowas wie Google also. Logisches Problem: Falls die Benutzung der Suchmaschine tatsächlich dazu führen sollte, dass wir weniger selbst denken und das Internet in der Folge mit immer weniger neuen bzw. relevanten Daten füttern, werden dann nicht alle Informationen irgendwann redundant? Vergisst das Internet schließlich sich selbst? Das ist, wenn ich mich richtig erinnere, der Traum des Überwachungssystems in George Orwells1984: Mittels Neusprech die Sprache schließlich auf ein Wort zu reduzieren. Dort kontrolliert das System die Menschen übrigens mit ihren persönlichen Ängsten.

(Da geht’s schon unaufhaltbar voran mit der digitalen Demenz. Wollte gerade irgendwo weiter oben den Link zu dem Film Lo And Behold – Reveries Of The Connected World einfügen. Die Domain ist nicht mehr vergeben: http://www.loandbehold-film.com/)

Zwischendurch zur Klarstellung: Ich will damit echte Demenz nicht veralbern.

Ich denke, dass das Thema digitale Demenz vor allen Dingen von Angst geschürt wird, so wie viele Themen gerade, die den derzeitigen sinnentleerten Wandel markieren. Viele wünschen sich in die Vergangenheit zurück, die sich im Gewand der Erinnerung (dank selektiver Sortierung und Aufbereitung) heute besser darzustellen vermag, als sie es damals als  Gegenwart vermochte.

So würde sich auch erklären, wieso neulich der Pfarrer in Wissenbach (Vakanzvertretung) so krudes, pseudoanalytisches Zeugs gepredigt hat. Thema der Predigt: Was hat das Christentum Gutes für Deutschland gebracht. (Predigtext war, wenn ich mich richtig erinnere, Matthäus 23 – was mit dem Thema nichts zu tun hat, höchstens mit seiner Sichtweise auf sich selbst, falls er sich wirklich als Rebell in der evangelischen Kirche versteht, wie meine Mutter mal meinte.) Mein Gedächtnis hat einen Großteil der Predigt mittlerweile verdrängt. (Das lässt in mir den Gedanken keimen, dass Vergessen Arbeit ist und daher mit Anstrengung verbunden ist.) In seiner Ansprache richtete er sich immer wieder direkt an die drei Jugendlichen vor mir, nutzte dabei aber Wörter wie Attribut und anthropophil (oder androphil?). Es gipfelte schließlich in der Aussage: „Und wenn es in Deutschland nicht so viele Abtreibungen gäbe, bräuchten wir weniger ausländische Fachkräfte.“  Ich hab mich währenddessen schwer aufgeregt und konnte nicht still sitzenbleiben in der Bank, bin es meiner Mutter zu Liebe aber doch. Hatte der Pfarrer wohl auch gemerkt, weil er da sowas in seinen Schluss einbaute wie „Auch wenn es hier manche aufregen mag…“. (Meiner Mutter hat dieser harte Satz vorher übrigens auch nicht gefallen, wie sie mir später sagte.)

Diese Predigt und auch die Thesen Manfred Spitzers würden, glaube ich, ohne ein dahinter gedachtes Früher war alles besser nicht wirklich greifen. Und dieser Gedanke kommt vielen, glaube ich,  derzeit durch eine Angst vor der Zukunft im Angesicht der Gegenwart.

Unsere negativen Emotionen sind aber ein schlechter Archivar unserer Erinnerungen.

Nachtrag:
Jetzt habe ich völlig vergessen, zu erzählen, wie ich überhaupt aktuell auf das Thema gekommen bin: Neulich habe ich eine Deutschgeschichte, Klasse 6, korrigiert, in der ein Schüler einen merkwürdigen Rechtschreibfehler eingbaut hatte: Am Anfang dachten alle, es Wärme nur eine Frage der Zeit. Wie zum Geier schleichen sich schon t9-artige Tippfehler, wie man sie von der Autovervollständigung bspw. aus Whatsapp kennt, in handschriftliche Texte ein? Ich Rätsel Zimmer noch, wie ihm das Passwort konnte.

Schwer oarme Firma

Sascha Lobo – der hat auch manchmal schwer lange Blogpausen – schreibt auf SPON über Facebook, die erste vernetzte Gefühlsmaschine:

Denn Treibstoff der sozialen Infrastruktur Facebook sind: Emotionen. Alle wesentlichen Probleme – wie auch die wirtschaftlichen Vorteile – ergeben sich aus der Macht von Facebook, flächendeckend Emotionen auszulösen. Genau dafür ist Facebook gebaut, wie man schon an Standardreaktionen sieht: Like, Love, Haha, Wow, Sad, Angry.

Und das ist der Hauptgrund dafür, dass vor der – absolut notwendigen – Regulierung Facebook überhaupt erst verstanden werden muss: Diese neue soziale Infrastruktur bildet nicht nur den Stand der digitalen Gesellschaft ab. Sie ist zugleich die erste vernetzte Gefühlsmaschine der Welt […}.

So von wegen Gefühle und Maschine und so: Mark zʌkʰɚbɚg konnte einem bei der Anhörung schon leid tun, muss aber nicht.

Suffixfaschismus

Interview mit Claudia Roth im Deutschlandfunk. Sie singt Er gehört zu mir, dicht neben Wolfgang Kubicki, Ursula von der Leyen fragt, ob damit Andreas Scheuer gemeint sei, und Horst Seehofer isst Unmengen an Vanilleeis. Plötzlich reißt ein Mann die Tür des Übertragungswagen auf und ruft: „Lügenpresse! Ökofaschist!“

Szenenwechsel. Auf Twitter antwortete neulich ein gab.ai/Mensch, die Neue Osnabrücker Zeitung sei ein linksfaschistisches Hetzblatt. Zum Begriff Linksfaschismus sagt Wikipedia, es handele sich um einen Kampfbegriff.

Gibt es auch Erinnerungskulturfaschismus?

Randnotiz: Gauland zitiert Höcke falsch. Höcke: Denkmal der Schande. Gauland: Denkmal unserer Schande. Das, was in beiden Reden sonst noch gesagt wird, ist übrigens schlimmer. Gauland zu Erinnerungskultur aktuell im Tagesspiegel: Wir haben uns damit beschäftigt und es aufgearbeitet. Auschwitz geht natürlich genauso in unsere Geschichte ein wie der Magdeburger Dom oder die Befreiungskriege. Es ist aber nicht unsere heutige demokratische Identität. Es ist nichts, was uns täglich berührt.

Hör mir uff mit diesem Suffixfaschismus, Deutschland!

Albinoklingone

Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass in den Star Trek-Serien und -Filmen die Klingonen im Laufe der Zeit immer unterschiedliche Feindbilder haben darstellen müssen? Zu Kirk-Zeiten waren sie überwiegend die böse, gewalttätige Weltraumrasse. Unter Picard gab es dann eine Annäherung zwischen den Völkern, Frieden herrschte. Jetzt ist mit der neuen Serie Discovery, die zeitlich wohl vor Kirk spielt, ein neuer Aspekt hinzugekommen: Die Klingonen haben einen deutlichen religiös-fanatischen Anstrich bekommen. Komplett neu ist das zwar nicht, aber so stark betont wurde der religiöse Aspekt in den alten Serien und Filmen nicht. Da ging es eher in Richtung nordischen Mythos mit Ehre und so nen Kram (s. Valhalla im Vergleich zu Stovokor). In der neuen Serie werden gleich in den ersten Folgen Märtyrer geschaffen und ein Albinoklingone scheint vom Ausgestoßenen zum Anführer zu werden. Gewalt ist natürlich die einzige Sprache, die die Klingonen verstehen. Die arme Föderation will aber nur forschen und nicht kämpfen, kämpft dann aber tapfer und ehrenhaft.

Eignet sich der gesamte Star Trek-Plot als Bild dafür, wie die US-Gesellschaft sich in der Welt sieht? Kalter Krieg=Kirk, Perestroika und Glasnost unter Picard und um jetzt geopolitisches Chaos und religiösen Fanatismus abbilden zu können, reist man in der Star Trek-Geschichte zurück, um eine unklare Galaxis mit einer zarten Föderation abbilden zu können? Mer waases net, mer forscht noch.

Das Maß der Betroffenheit

Meine Gedanken zur G20gipfeleskalationsdiskussion:

Ich habe das auch an Wolfgang Bosbach gerichtet, weil ich das hier gelesen habe: Bosbach verlässt Studio – Bei G20 eskaliert sogar der Maischberger-Talk. Blöd ist, dass ich erst hinterher gelesen habe, dass ich nicht Wolfgang Bosbach geschrieben habe, sondern einem 19jährigen Jungunionler. Soviel zu meiner Social-Media-Kompetenz
Ich habe selbst die Sendung nicht geseehen. Außer auf Phönix kann man sich nämlich kaum Talkshows anschauen, die nicht eskalieren. Dabei ist doch die einzige Gewalt, die wir akzeptieren sollten, der zwanglose Zwang des besseren Arguments.

Mein Eindruck ist, dass es in unserer Gesellschaft hysterisch zugeht, sobald Ordnung und Besitz in Gefahr geraten. (Dabei ist doch eh alles eitel, sagt der Prediger (Jak 4,14). Die Fokussierung auf den Materialismus ist übrigens meine Hauptkritik an der Linken.) Wirklich schlimm finde ich, dass die öffentliche Empörung so viel größer zu sein scheint als bei vielen empörungswürdigen Ereignissen in den vergangenen Jahren, bei denen auch Menschen hier in unserer Gesellschaft direkt zu Schaden kamen. Die Betroffenheit scheint bei den NSU-Taten nicht allzu groß zu sein. Ich erinnere mich daran, dass ein Freund mal mit seinen Schülern als Projekt eine improvisierte Gedenkwand für die Opfer gemacht hat – und dafür in seiner Schule ziemlich viel Kritik hat einstecken müssen.

Mit dem Maß der Betroffenheit die Ereignisse zu bewerten ist dann problematisch, wenn man nicht mal mehr den eigenen Tellerrand sieht. Dabei sollte es bei der G20-Diskussion doch eigentlich darum gehen: Aufarbeitung von G20 – Die Verweigerung der Demokratie.