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Ein beunruhigendes Video

Zuerst der Hinweis, später vielleicht mehr.

UPDATE:
Auf Spiegel ist jetzt noch ein Artikel dazu erschienen, in dem auch die verschiedenen Quellen ganz gut aufgelistet sind.

Ich  war ja schon das ein oder andere Mal auf verschiedenen Demonstrationen in Gießen, Mannheim, Frankfurt und einmal auch in Wiesbaden. Dort war damals die Dingfestmachung der Studiengebühren im hessischen Landtag (=3. Lesung), wo ein Freund und ich es tatsächlich geschafft hatten, unter Personenschutz durch die Polizei innerhalb der Bannmeile einen Kaffee bei Starbucks zu trinken – während eine mittelgroße Gruppe von Studierenden um die Bannmeile herum demonstrieren ging. Als der Demo-Zug sich näherte, bekamen es die Polizisten ein bisschen mit der Angst zu tun, die Horde würde zu uns stoßen wollen, sodass wir angehalten wurden, den Kaffee schneller zu trinken…

Naja, noch ne halbe Stunde vorher, als der Demotrupp noch an einem Eingang zur Bannmeile Krawall gespielt hat (sie waren nur laut und haben irgendwelche Sachen gerufen und ein bisschen am Metallzaun gerüttelt), waren hinter der Eisengitter-Absperrung einige Polizisten postiert, sowohl zur Abschreckung aber auch bereit für den Ernstfall, wie auch immer der ausgesehen hätte. Dabei war ein Hund mit seinem Führer, beide gingen hinter der in einer Reihe am Zaun postierten Beamten entlang, als der Hund auf einmal austickte und eine Polizistin ansprang und biss – ich glaube, zum Glück nur in die schwere Uniform, zumindest war es eher Schrecken und weniger Schmerz, der im Gesicht der Frau zu lesen waren. Jedenfalls ist der Hund einfach so ausgetickt, war wohl mit der Lautstärke zu stressig, was ich ja verstehen kann.
Was ich nicht verstehe ist, warum die Polizei Hunde mit auf Demos nimmt, auch wenn es ausgebildete Hunde sind.
Ein weiteres Beispiel war in Gießen, als der Demonstrationszug tendenziös Richtung Autobahn marschierte. Eine Hundertschaft riegelte die entscheidende Kreuzung mittels einer spontanen Beamen-Kette ab. Ein Hundeführer ging mit seinem Hund quer zur Reihe. Er hat den Hund ganz klar zur Abschreckung vor der Absperrung „spazieren geführt“, ein Demonstrationsteilnehmer wäre dabei beinahe gebissen worden, weil der Führer den Hund nur schwer unter Kontrolle halten konnte.
Beide Situationen waren vermeidbar, die letzte unverantwortlich. Gerade in solch hitzigen Momenten wie Massenaufläufen ist es wichtig, die Kontrolle über sein Verhalten zu bewahren.

Der ins Gesicht schlagende Polizist hatte die Kontrolle offenbar nicht. Sein Verhalten hat mich stark an das eines Hundes erinnert, dem der ganze Krach und die vielen Menschen einfach zu viel werden und austickt. Jetzt suggeriert der Spiegel-Artikel, der Demoteilnehmer sei zusammengeschlagen worden, weil sich einzelne Polizisten von einer möglichen Anzeige bedroht gefühlt hätten. Das würde bedeuten, dass die sich den Typen aus Berechnung geschnappt hätten. Ich glaube aber, da ist einfach jemand ausgetickt, weil es ihm zu viel wurde, weil der Typ den Anweisungen nicht genau Folge geleistet hat oder warum auch immer. Zum Glück waren die Demonstranten dort scheinbar nicht gewaltbereit, sonst wäre das womöglich böse ausgegangen.

PS: Ich bin ja mal gespannt, wie viele Leute die Piraten am 27.09. wählen…

Entschlossene Langsamkeit

Hab eben beobachten können, wie eine Schwanenfamilie die Straße überquert (übrigens um zum Schwanenteich zu gelangen). Die Überquerung hat etwa drei Minuten gedauert und die heranrasenden Autofahrer mussten anhalten und warten. Die Schwäne sind so langsam über die Straße gewatschelt, als wollten sie die Autos provozieren.
Ich musste dabei an Die Entdeckung der Langsamkeit denken, in der die Kunstfigur eines John Franklins genau so beschrieben wird, während er über Deck geht. Weil er langsam ist in allem, kriegen die anderen auf dem Schiff eben sehr schnell raus, dass sie ihm ausweichen müssen.
Der wichtige Gedanke dabei ist, dass das Entscheidende nicht die Geschwindigkeit ist, mit der man etwas tut, sondern die Entschlossenheit…

Automat

War gerade noch mal im Freibad schwimmen, um es zum letzten Mal diese Saison im Freien zu genießen. Da ich meine ermäßigte „Karte“ – in Wahrheit handelt es sich um einen RFID-Chip, der in einem 5-Mark-Stück-großen, roten, runden Plastikchip sitzt – beim letzten Mal verbraucht hatte und dieser der Automat automatisch eingezogen hatte, wollte ich mir heute einen neuen ermäßigten Chip kaufen. Übrigens ist es nicht möglich, einzelne Ermäßigungen zu bekommen,  man muss immer mindestens fünf auf einmal bezahlen (=6,40€). Dass das Schwimmbad zwei Tage später zumacht, war mir egal, kann ich ja noch nächste Saison benutzen, dachte ich. Tja, das dachte ich, während ich vor dem unbesetzten Kassenhäuschen stand… – nachdem ich ne Weile dachte, dass auch Kassierer aufs Klo müssen, betätigte ich die Klingel für die Fernsprechanlage und schilderte der fragenden Stimme, das Kassenhäuschen sei nicht besetzt. Die wieß mich dann auf den Bezahlautomaten hin, den ich bis dahin tatsächlich übersehen hatte. Auf meine bedankende Schlussbemerkung, dass ich ja ermäßigten Eintritt bekäme, offenbarte mir der Lautsprecher, dass dies am Automaten nicht möglich sei (was ich insofern verstehe, als dass ich ihm zwar meinen Ausweis vor den Bildschirm halten könnte, ich aber andererseits froh bin, dass noch keine intelligenten Scanner für sowas im Einsatz sind). Ermäßigte Karten könne man nur kaufen, wenn die Kasse besetzt sei. Auf meinen Hinweis, laut Beschilderung sei ich zu einer Uhrzeit an der Kasse, an der sie besetzt sein sollte, wurde ich darauf hingewiesen, dass wegen fünf Badegästen die Kasse nicht besetzt werde. Prinzipiell fand ich das ja verständlich – wenn damit nicht ausgeschlossen worden wäre, dass ich weder ermäßigten Eintritt bekäme, noch den Euro für den Spint mir hätte wechseln können, noch das 20-Cent-Stück, welches für die warmen Duschen benötigt wird… Also fing ich kurz an zu disktuieren, nachdem sich das Gespräch aber – ähnlich wie mit Wachtmeistern – im Kreis drehte, ließ ich dem Lautsprecher gegenüber die Bemerkung fallen, dass Diskutieren offensichtlich nichts bringe, ich das alles dämlich fände und bedankte mich höflich (wohl nur höflich und weniger ehrlich) und steckte die 2,40€ in den Automaten und die durch Wut und Unverständnis aufgeladene Energie in die folgenden 2200m…

Abgesehen davon, dass ich mich in dieser kurzen Erzählung in einer Welt voll Grausamkeit als den Entrechteten schlechthin darstellen möchte, gehts mir um Folgendes: Ich finde es krass, dass sich eine Entwicklung bestätigt, möglichst viel zu automatisieren. Eine Folge, die ich heute selbst gespürt habe, ist, dass eine ehemals selbstverständlich von einem Menschen besetzte Kasse nur noch als kulanter Zusatz-Service zum Automat verstanden wird. Wer dann irgendwelche Bedürfnisse hat, die nicht ins automatisierte Schema passen, hat gelitten, bzw. hat zu leiden. Ähnliches Prinzip befürchtet sich beim mittlerweile automatisierten Rückmeldesystem an der Uni Gießen zu entwickeln, wo man mittlerweile im Idealfall nur noch was mit Scannern und Druckern zu tun hat, um die benötigten Unterlagen zu bekommen.

Den Bogen weiter gespannt sei noch zum Schluss der Hinweis gestattet, dass man nicht automatisch Maschinen benötigt, um Automaten herzustellen. Bestes Beispiel ist die Umsetzung der Modularisierung von Bildung, die zuweilen dazu führt, dass sich eine Logik automatisiert, die nichts mehr mit Realität zu tun hat oder vielmehr: eine Logik, die sich eine eigene Realität schafft. Hab ich heut morgen wieder gedacht, als ich mitbekommen habe, mit welchen Problemen sich einige meiner Hauptschüler rumschlagen (wörtlichst). Das Ausbildungsmodul Erziehen, Beraten, Betreuen kann jedenfalls trotz schicken Titels mir nicht mehr Ratschläge geben, als: Machense doch mal Gruppenarbeiten im Unterricht… (Achtung: Zynische Polemik!) Es tut aber so, als könne man nach dem Besuch erziehen, beraten und betreuen. Probleme, die über den Zuständigkeitsbereich eines Moduls hinausgehen, haben ja rein technisch betrachtet dort jeweils keinen Platz. Zum Glück sitzen aber manchmal Menschen in den Modulen, die nicht nur Routine automatisch abspulen…

Das Internet-Manifest

Endlich mal jemand, der nichts zum Internet-Manifest zu sagen hat… – Naja, fast nichts, zumindest, liegt aber wohl nur an der ‚17‚.

Ich hingegen finde, dass das alles arg schwammig ist und damit keine Forderungen oder wirklich neuen Sichtweisen verbunden sind. Merkwürdig finde ich folgenden Punkt:

Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

Mein Problem damit ist, dass da irgendwie drin steckt, dass Öffentlichkeit sich in Zukunft nur noch aufs Netz beschränken wird. Und das will ich nicht.

Zur Afghanistan-Diskussion

Ihr sagt zwar Menschlichkeit, meint aber Macht. Denn ihr greift nicht zufällig da ein, wo’s euch machtpolitisch behagt. In einigen Teilen der Welt sind euch Menschenrechtsverletzungen egal, an wirtschaftlich oder strategisch bedeutsamen Stellen seid ihr auf einmal dabei.

Ich denke, dieser Ausschnitt aus einem Interview mit Christoph Kampmann in der FR ist der entscheidende Punkt für eine Diskussion, ob der Afghanistan-Krieg richtig ist oder notwendig – erst recht nach dem zweifelhaften Bombardement zur Verhinderung eines Anschlags. (Interessanterweise ist hier in manchem journalistischen Beitrag derzeit das Interesse an der unheitlichen Bewertung des Vorgangs innerhalb der NATO größer als an der Frage nach dem richtigen Handeln.) Die weiterführende Frage lautet: Ist die Tatsache, dass an vielen anderen Stellen der Welt weggeschaut wird und in Afghanistan nur zweitrangig humanitäre Beweggründe eine Rolle spielen, ein Argument, Afghanistan sich selbst zu überlassen? (Erst danach sollte man sich übrigens mit der Frage beschäftigen, ob der Krieg überhaupt noch zu gewinnen ist.)

Entschuldigung ohne Reue

Zwei Gedanken zu Rüttgers Aussagen über die faulen Rumänen, die, weil sie zu spät zur Arbeit kämen, schlechtere Handys produzieren würden, und die irgendwie auch doofen Chinesen. Auslöser ist der Ausspruch von Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet auf FR-Online, der Rüttgers wie folgt verteidigt:

„Ich finde die Reaktionen völlig überzogen“, sagte Laschet am Montag im ZDF-„Morgenmagazin“. Rüttgers Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen, sei „geradezu absurd“. „Deshalb sollte man die Tassen im Schrank lassen“ und Rüttgers‘ Entschuldigung annehmen, forderte Laschet. Im Engagement für den früheren Nokia-Standort Bochum sei ihm „diese Formulierung durchgegangen“.

Zum einen hat Rüttgers sich nicht entschuldigt: „Ich wollte niemanden beleidigen, wenn das doch geschehen ist, tut mir das leid.“ Die Formulierung nimmt sein eigenes Handeln aus der Verantwortung, eine echte Entschuldigung würde sich nämlich z.B. so anhören: „Es tut mir leid, dass ich jemanden beleidigt habe.“ Zu einer Entschuldigung gehört die Einsicht, einen Fehler begangen zu haben, kurz: Reue. Die kann ich aus dem Wortlaut nicht lesen.

Zum anderen bedeutet Laschets Aussage, die Formulierung sei mit Rüttgers durchgegangen, dass Rüttgers inhaltlich recht habe. Die Gedanken, die dahinter stehen und also nach wie vor in Rüttgers Kopf Raum haben, die er nur kurzzeitig formulierungstechnisch nicht im Zaum hatte, sind doch das eigentliche Problem. Das wirklich Bittere an der Sache ist, dass er Ministerpräsident eines ziemlich großen Bundeslandes ist und da finde ich es schon krass, dass so eine Weltanschauung sich in so einer mächtige Position befinden kann…

Jetzt kann man mir natürlich vorhalten, ich sei, weil ich als Deutschlehrer von Formulierungsangelegenheiten sowieso besessen sei, da sehr verbissen an ein paar unbedeutende Wörter und Phrasen rangegangen. Man muss sich dabei allerdings im Klaren sein, dass Rüttgers seine ‚Völkerkunde‘ nicht nur einmal offenbart hat und Politiker seines Schlages vermutlich die Hälfte ihres Lebens in Rhetorik-Seminaren verbracht haben, um eigene Überzeugungen in Formulierungen zu verpacken, die niemand mehr wirklich versteht.

PS: Man muss doch mal die Tassen im Schrank lassen wird wohl zu meinem persönlichen Sprichwort-Favoriten…

Richtlinie und Verantwortung

Je länger ich in der Schule bin, desto stärker festigt sich der Gedanke, dass allzu strikte Regeln und Verhaltensmaßgaben Menschen zur Verantwortungslosigkeit erziehen. Aktueller Auslöser zu diesem Gedanken war die Neuregelung der ‚Verkehrsführung‘ einer Unterführung, die sowohl Fußgänger als auch Radfahrer nutzen. Seit kurzer Zeit ist diese breite Unterführung, die bergab und um die Kurve führt, in einen schmalen Teil für Fußgänger und einen breiteren für Radfahrer mit entsprechenden Symbolen und Linie auf dem Boden markiert. Das mag in dem ein oder anderen Fall auch sinnvoll sein, weil so wahrscheinlicher Zusammenstöße zwischen Kinderwagen und Radfahrern vermieden werden könnten. Allerdings kam mir, als ich eben mit einem Freund dort spazieren ging, der Gedanke, dass die Markierung langfristig den genau gegenteiligen Effekt haben könnte: Statt vorsichtig um die Kurve zu fahren, weil ja auch Fußgänger die Unterführung nutzen könnten, würde sich ein Radfahrer wohl recht schnell auf die markierten Verkehrsregeln verlassen und so die Verantwortung für sein Handeln dieser Wegstruktur übertragen. Ob nun ein oder mehrere Fußgänger sich hinter der Kurve befinden, wird dann irrelevant und führt vielleicht dazu, unvorsichtiger zu fahren…

Nach ähnlichem Prinzip verhält es sich auch mit anderen Richtlinien, die bspw. das Zusammenleben ordnen. Unter dem Diktat der Regel, ohne dass ein Bewusstsein vorhanden wäre, warum diese Sinn macht, gibt man die Verantwortung schnell ab, weil man sich ja so verhält, wie es von einem verlangt wird. Passen Regel und Situation allerdings nicht zusammen, wäre es angebracht, in eigener Verantwortung sinnvoll zu handeln. Und in der Schule erlebe ich es eben oft, dass Lehrer mit Schülern vor allen Dingen formale Kämpfe statt inhaltlichen führen, also aus Prinzip auf dem Einhalten von Regeln beharren. Und das wird eben dann problematisch, wenn es nicht möglich ist, bewusst zu machen, warum diese durchzusetzenden Verhaltensregeln sinnvoll sind. Verantwortungsvoll scheint also erst der zu handeln, der sich inhaltlich begründet sinnvoll über Regeln hinwegsetzt:

[…] es muss Normen geben, die zu einer Abweichung von einem Sollen führen können. (wikipedia)

Dies soll nun nicht zu Anarchie und Abschaffung von Regeln aufrufen. Stattdessen sollte sich folgendes Bewusstsein in den Köpfen festsetzen: Regeln sind dazu da, um zu lernen, wann man sie brechen muss. Anarchie führt zur Beliebigkeit und somit zur Bedeutungslosigkeit des eigenen Handelns. Aber Regeln zu brechen, wenn es inhaltlich begründet ist, stärkt die Erziehung zu verantwortlichem Handeln und Denken. Mit diesem Bewusstsein lässt sich so mancher Situation weniger verbissen entgegentreten…

Demokratie

Während ich gerade Hart aber Fair schaue mit Lafontaine, Gabriel, Künast, Westerwelle und Koch (von links nach rechts), kommt mir so der Gedanke, dass sich in den nächsten, sagen wir zehn Jahren eine Entwicklung auftun könnte, die den bisschen demokratischen Prinzipien in Deutschland schaden könnte: Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland sich in der parlamentarischen Demokratie immer weniger wiederfinden werden. Die einzigen, die derzeit wissen, welche Partei sie wählen werden, sind die auf Seiten des „bürgerlichen Lagers“ (was ein hässlicher Begriff, schließlich kann jeder Bürger wählen und nicht nur diejenigen sind Bürger, die FDP oder CDU/CSU wählen). Wenn sich dieser Koalition in der nächsten Legislatur durchsetzt und ihre Wahlprogramme weitestgehend umsetzen werden, wird sich das, was sich momentan schon an Protestpotenzial in Parteien wie der Linken wiederfindet, noch stärker ausbilden, ohne allerdings von Parteien wirklich eingebunden werden zu können. Sprich: Bei einer schwarz-gelben Koalition wird sich der Protest (=gesellschaftliche Spaltung) radikalisieren. Und was dann bei der nächsten Bundestagswahl bei rauskommt, möchte ich nicht mutmaßen.

PS: Ich bin ja gespannt, wie stark die Piraten-Partei wird, die dort, wo sie inhaltlich wird, interessante Ansätze verfolgt. Vielleicht hat sie gerade wegen ihrer Aussagelosigkeit zu vielen gesellschaftlichen Themen (Wirtschaft, Arbeit, Umwelt…) eine große Chance, die Volkspartei der Zukunft zu werden…

Schwimmen

Ich war eben schwimmen. Ich erinnere mich noch, dass eine Freundin mal gesagt hat, sie könne besonders gut nachdenken beim Schwimmen. Ich habe festgestellt, dass ich während des Sports überhaupt nicht an Dinge denke, die nicht mit Schwimmen zu tun haben. Ich konzentriere mich voll auf das Wassergefühl, die Geräusche von Schwimmbewegung und vom Atmen, darauf, dass ich nicht zu früh Luft hole, wenn ich den Kopf zur Seite aus dem Wasser drehe… manchmal vergesse ich sogar dadurch die Anzahl der geschwommenen Bahnen. Anders gesagt: Schwimmen gehört zu den Zeiten, in denen endlich mal alles, was ich tue, einen in sich geschlossenen Sinn hat, wo ich mein Handeln endlich mal nicht mehr in Frage stellen muss. Warum sollte ich diese kostbaren Momente mit fremden Gedanken stören?

Bach, Mendelssohn-Bartholdy und ABBA

Heute habe ich Dank eines Hinweises eines Freundes an einer musikalischen Orgel-Radtour teilgenommen. Gestartet hat das Ganze in der Kirche am Kirchberg in der Nähe von Lollar. Dort spielte der Busecker Dekanatskantor verschiedenste Stücke, die meisten haben mir ganz gut gefallen. Ich hab Orgelmusik auch schon immer irgendwie faszinierend gefunden, nicht erst seit „In the Garden of Eden„, auch schon früher in Wissenbach, wo wir – wenn ichs nicht total verpeile – eine pneumatische Orgel haben, was zu den sonst üblichen mechanischen eher selten ist. Jedenfalls spielte der Dekanatskantor zunächst Bach, dann Pachelbel, später auch was von Wagner. Als dann nach geschätzten 20 Minuten ein Notenbuch auf die Notenhalterung der Orgel gelegt wurde, auf dem in großen goldenen Buchstaben das Wort „ABBA“ zu lesen war, war ich zunächst verwundert, später dann ziemlich angetan von dem durch Wäscheklammern im Buch markierten „Medley“. Zwar mag ich ABBA-Musik nicht unbedingt allzusehr, allerdings war da so ein kurzes Gefühl, dass in dieses heilige Gebäude ein bisschen mehr Wahrheit reingelassen wurde…

Wir fuhren dann per Rad nach Mainzlar in eine sehr kleine Kirche, in der neben älteren Orgelstücken – darunter Ach wie flüchtig, ach wie nichtig von Georg Böhm, was mit seinem vorreformatorischen Gesangs-Intermezzo schon einem ein Gefühl dafür hat geben können, wie man sich fühlt, wenn man überall nur vom Fegefeuer hört – zum Ende auch ein Akkordeon zum Solo-Einsatz kam. Ziemlich beeindruckend, was aus so einem Ding rauszuholen ist. Vom Klang natürlich nicht so kraftvoll wie eine Orgel, aber tänzerischer … Tanzende Orgel wäre vielleicht ein gut beschreibender Begriff. Jedenfalls waren sowohl die klassisch europäische Musik als auch der argentinische Tango hörenswert.

Wir fuhren dann nach Treis. Dort hörten wir wieder diverse Adaptionen wie bspw. von „In dir ist Freude“ oder „Danke für diesen guten Morgen“, welches als „Eine kleine Dankmusik“ mit Mozart-Klängen vermischt wurde. Ganz ok eigentlich, bis auf das ausgelutschte „Danke für diesen guten Morgen“-Thema halt… Danach gabs dann im Gemeindehaus Kaffee und Kuchen, dann gings zurück.

Auf der Rückfahrt hab ichs dann auch tatsächlich geschafft, mit meinem Mountainbike samt Clickpedalschuhen an einer Straße mitten in den Fahrradpulk zu geraten und klinkte dann schnell links aus, weil links aber plötzlich alles voll war, musste ich mich nach rechts auf den Boden fallen lassen. Das Lachen des älteren Herrns mit dem motor-betriebenen Fahrrad, den ich zuvor am steilen Berg mit den Worten „Das ist aber gefuddelt!“ überholt hab, fand glaube ich nur in meinem Kopf statt… (So ein Motor-Fahrrad ist schon geil irgendwie – der ältere Herr fuhr so leichtfüßig in akzeptabler Geschwindigkeit bergauf, das sah einfach cool aus. Ich überlege derzeit, mir nen Motor an mein Hardtail zu installieren…) Aber die Leute waren glaube ich ehrlich besorgt. Zum Glück ist mein rechtes Knie aber eh schon kaputt, trotzdem ist Hinfallen mit dem teuersten, pardon: zweitteuersten, Fahrrad einfach uncool.

Nächste Woche ist wieder sowas, vielleicht hab ich ja noch mal Bock drauf. Die Orgel ist einfach die Königin der Instrumente.

Aus den Aufzeichnungen: Gedanken zur Entwicklung

Folgende kurze Zeilen sind nicht von mir – ich habe sie Aufzeichnungen entnommen, die mir neulich durch einen Zufall in die Hände gefallen sind. Ich stelle hier zunächst nur einen kurzen Ausschnitt vor, der, wie ich finde, in sich geschlossen wirkt. Das Problem ist nämlich, dass innerhalb der Aufzeichnung kein wirklicher Zusammenhang zu erkennen ist – eben dadurch, dass viele Gedanken wahllos aneinandergereit scheinen, beinahe wie in einem Tagebuch. Dennoch ist durch alle Texte hindurch eine unbestimmbare Kontinuität erkennbar, die berechtigen, unten Stehendes als einen Ausschnitt zu bezeichnen.

Gedanken zur Entwicklung

Wenn es nun aber eine Evolution gibt – und die Frage lautet eher, welche Bedeutung damit verknüpft ist … –  wenn es nun aber eine Entwicklung gibt, deren Antrieb der Zufall, deren Zweck, Ziel und Sinn der Fortschritt ist, dann muss man mir erklären, warum sie genauso und in diese Richtung stattfindet (also: warum der Fortschritt der Sinn der Entwicklung ist). Was treibt Materie (oder besser: das, was man allgemein hin damit bezeichnet) dazu an, dass sie einen Geist, ein Bewusstsein, erschafft, der sie selbst in Frage stellt? Oder sollte ‚Geist‘ tatsächlich nur ein überaus komplexes synaptisches Netzwerk sein? – Ein Netzwerk, welches sich urplötzlich durch Vorstellungskraft, also durch konstruierte Wahrnehmung, entschließt zu bemerken: „Hoppla, ‚ich‘ bin ja mehr als die Summe und das Zusammenspiel von Wahrnehmung!“? .. Dieses ‚Ich‘-Erkennen ist an und für sich der beste Hinweis darauf, dass es gerechtfertigt ist, von den beiden Begriffen Materie und Geist auszugehen – zumindest,  solange wir keine besseren haben.
Nun aber zu meinem Punkt: Ich glaube, dass es zu der sich selbst bewussten Materie mehr braucht als nur Materie. Ich glaube fest daran, dass es dazu ein göttliches Wort gebraucht hat. Der Zufall kennt schließlich keine Richtung.
Man könnte hier natürlich entgegenhalten, dass wir jetzt, da wir zurückblicken können auf Jahrzehnte, Jahrtausende, Jahrmillionen von materieller und kultureller Entwicklung, die Richtung erst dadurch definieren. Allerdings müsste es schon ein argwilliger Zufall sein, der sich selbst ein Bewusstsein schafft, das im Grunde genommen nur die Wahl hat, ihn in Frage zu stellen oder als Alternative selbst sinnlos zu sein.
Kouska hat bereits in faszinierender Weise ausgeführt, dass entweder die Wahrscheinlichkeitstheorie selbst  falsch sein muss oder es gibt keine gelebte Welt mit dem Menschen als bewusstseinschaffende Kreatur. Anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit meiner Existenz ist statistisch betrachtet so gering, dass sie mathematisch als unmöglich bezeichnet werden muss. Wenn es aber unmöglich ist und ich trotzdem bin, dann gibt es einen Widerspruch, der sich nur in Sinn auflösen kann, indem sich alles in der Bedeutungslosigkeit verliert. Und dagegen glaube ich.

Ich empfinde diese kurzen wenn auch gelegentlich holprig dargelegten Gedankengänge als interessant; wenngleich man das Gefühl hat, dass der Autor an der ein oder anderen Stelle sehr springt und man irgendwie mehr von ihm wissen möchte, um zu verstehen, was er meint, so wirken sie gerade dadurch echt, dass vielleicht eben keine klare Linie zu erkennen ist, wie es beispielsweise bei einem Aufsatz üblich ist, der sich an einen konkreten Leser richtet. Worauf sich der Autor bezieht, wenn gegen Ende von den Ausführungen Kouskas die Rede ist, blieb mir bislang verborgen. Sein Anliegen wird dennoch deutlich, denke ich. Ich habe den Zeilen, da der Verfasser selbst es versäumte, ihnen einen Titel zu geben – vielleicht empfand er es in seiner Situation als unnötig –, eigenmächtig diesen Namen gegeben. Zwar weiß ich nicht, ob er damit einverstanden gewesen wäre, aber so ganz nackt wollte ich die Gedanken dann doch nicht hier stehen lassen.

Psychologie eines Klodiskurses

Am Donnerstag traf ich mich an der Uni mit Björn zum Schachspielen, als ich mal gemütlich ausführlich aufs Klo musste.  Als ich so „uffem Schacht“ saß, las ich mir den angeregt geführten Klodiskurs an der Tür durch, der in etwa davon handelte, dass ein vormaliger Besucher zunächst pauschal alle Studentinnen als Prostituierte bezeichnete, da sie sich für Scheine (und er erwähnte extra auch die Seminarscheine) den Professoren anbieten würden. Der nächste forderte auf, Namen zu nennen und nicht bloß bei unbestimmten Behauptungen also unglaubwürdig stehen zu bleiben, woraufhin der Eingangsschreiber seinen Vorwurf immerhin auf den Fachbereich 06 eingrenzte, wegen der räumlichen Nähe vermutlich nicht Sport sondern die Psychologie meinte. Da schaltete sich auf einmal ein weiterer Debattant ein mit dem Ausruf „Kann man denn hier nicht mal in Ruhe sch*****?!“ Die Antwort kam prompt in Form eines Adorno-Zitats (wie ich mich später von meinem Schachkollegen aufklären lassen musste, peinlich peinlich): „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
Randbemerkung: Auch Adorno gehörte zu den Leuten, die lieber in etwas anderem groß geworden wären…

Jedenfalls wollte ich nun mein Kabinenbedürfnis zeitgleich mit dem Toilettentür-Diskurs beenden. Als ich gerade im Begriff war, mich des Diskurses zu entziehen, entdeckte ich an der linken Kabinenwand ein Wort, das mir nicht so recht in den Zusammenhang zu passen schien: „Snujer“. Da hatte doch jemand tatsächlich ein Wort hingeschrieben, dessen einzigen Sinn ich entringen konnte, indem ich es als meinen falschgeschriebenen Nachnahmen identifizierte. Verwirrt belustigt las ich mir den ganzen Satz durch … Was ich las, ließ mich die Augen zusammenkneifen (mit dem Schachten wars da übrigens schon längst vorüber): „All The Oles Are Fat, Including The Snujers.“ . Ich muss sagen, dass ich das Dasein dieses Satzes bis jetzt nicht ganz gerafft habe und es als eines der wenigen Mysterien in meinem Leben wohl existieren lassen muss.
Ich werde wahrscheinlich nie herausfinden, was jemanden dazu veranlasst hat, mich an der Kabinenwand in diesen sinnfreien Satz zu bannen. Meine einzige Vermutung besteht darin, dass der Satz, dessen Anfangsbuchstaben der Wörter nochmal extra aufgeführt waren, Teil eines Spielchens war, bei dem zufällig ausgewählten Buchstaben ein logisch richtiger Satz zugeordnet werden musste. Jetzt frage ich mich natürlich, seit wann der Satz schon da stand und ich ihn nicht bemerkt hatte… (Später am Abend bei unseren regelmäßig reaktivierten AKBp-Treffen kamen wir dann auf den Gedanken, dass ich vielleicht während des Studiums jahrelang gemobbt worden bin – es aber nie gemerkt habe…)

Kurz darauf beim weiteren Schachspielen wurden wir von zwei Psychologinnen angesprochen, ob wir nicht Lust hätten, an einem Experiment zur Untersuchung der Sprachwahrnehmung teilzunehmen, als Belohnung gäbe es einen Schokoriegel. Da ich billig zu haben war und Lust auf ein Snickers hatte, stimmte ich zu und ging mit einer der beiden zu einem Büro, während ich sie die ganze Zeit peinlichst auf Hinweise auf Prostitution hin untersuchte – ich konnte nichts dergleichen feststellen.
Im Büro angekommen musste ich mit Erschrecken feststellen, dass auf dem Tisch nur Duplo und Kinderriegel standen; wurde also nichts mit Snickers. Entsprechend unmotiviert begab ich mich an den ersten Test. Dort sollte ich zunächst Buchstaben nach meinen Vorlieben benoten. Also, wenn ich das „O“ besonders mochte (immerhin der Anfangsbuchstabe meines Vornamens), gab ich 9 Punkte, das langweilige „S“ bekam 5 und das komische „Y“ nur zwei Punkte. Das ganze lief am Computer ab in zufälliger Reihenfolge und ich durfte nicht Nachdenken, als ich die Buchstaben bewertete. Beim zweiten Test musste man möglichst schnell wirre Buchstabenkombinationen, also Fantasiewörter einteilen in jene, die mit einem Vokal begannen, und jene, die mit einem Konsonant anfingen, das Ganze möglichst schnell. Danach musste ich noch zwei Mal den ersten Test, also das Buchstabenranking, wiederholen. Zum Abschluss sollte ich dann noch einen kurzen Fragebogen ausfüllen, bei dem mir Fragen zu meinem derzeitigen Selbstwertgefühl gestellt wurden. Also, wie wichtig ist mir, was andere über mich denken; was denke ich, wie viel ich Wert bin und so weiter. Mein Selbstwertgeühl hing immer noch an dem Satz an der Kabinenwand, deshalb waren die Antworten nicht ganz so arrogant wie sonst. Nach dem Fragebogen war die Untersuchung dann auch schon fertig und ich durfte mir einen der beiden Schokoriegel für meine Mühen aussuchen (Stichwort: Prostitution im Fachbereich 06). Ich lehnte dankend ab.
Beim Rausgehen teilte die wissenschaftliche Mitarbeiterin mir dann wenig überraschend die Auflösung des Ganzen mit: „Jetzt kann ichs dir ja sagen, das Ganze hatte nichts mit Sprachgefühl zu tun. Es ging viel eher darum, zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Vorliebe für den eigenen Anfangsbuchstaben und der Selbstwertschätzung gibt.“ (Ich glaube, der Begriff dazu wäre Implizite Selbstwertschätzung.) „Beim zweiten Test wurden dir kurze Impulse gezeigt, die du nicht bewusst hast wahrnehmen können, es ging da bei den Vokalen und Konsonanten nur um deine Afmerksamkeit. Die Unteruchungsmethode ist allerdings umstritten, aber anders kann man es ja auch nicht messen.“ Ich überlegte kurz, ob ich sagen sollte, dass ich das „O“ zwar außerordentlich gut bewertet hatte, meinen Selbstwert aber vor allem situativ bedingt eher etwas weit unten angesiedelt habe.
Mit einem schlechten Gewissen, hier gerade jemandem die Promotion versaut zu haben, verließ ich die Psychologie und wandte mich wieder dem Schachspielen zu. Das Spiel gewann ich natürlich und Snickers und Klospruch waren wieder kompensiert – in da Face, Björn! Ich bin der Tollste!

Als wesentliche Erkenntnis aus diesem psychologischen Diskurs nehme ich also mit: Die beste Waffe gegen Mobbing ist mangelnde Wahrnehmung, der Begriff „Schokoriegel“ ist je nach Giergrad unterschiedlich interpretierbar und Prostitution findet weniger durch die Psychologinnen selbst als vielmehr durch die Psychologie als Wissenschaftsdisziplin statt, indem sie versucht, Erkenntnisse durch pseudo-naturwissenschaftliche Messmethoden zu erzeugen und sich so möglichst billig an die Wahrheit zu verhökern (zum Glück ist die Wahrheit aber integer).

Ahmadinedschad

Ein geiles Bild … und umso ausdrucksstärker, wenn man den Rahmen miteinbezieht:
Am Freitag sind im Iran Präsidentschaftswahlen. Ob es da wirklich eng für Ahmadinedschad wird, weiß ich nicht, glaube ich zumindest nicht.
In diesem Zusammenhang ist aber vor allem Obamas Besuch von Buchenwald (mit einer beeindruckenden Rede von Eli Wiesel) sowie seiner (traditionellen) Teilnahme an den Feierlichkeiten zum D-Day zu sehen. Kurz zuvor in Kairo zur „islamischen Welt“ gesprochen und von mehr Welten beachtet, ist die Geschichte, die Identiät dieses Präsidenten das, was am deutlichsten gegen den Holocaust-Leugner* Ahmadinedschad steht.
Und Eli Wiesel formuliert am besten:

Erinnerung muss die Menschen zusammenbringen, statt sie zu trennen.

NACHTRAG zum Ausgang der Wahl („Ich habe Ahmadi gewählt, aber dieses Resultat kann einfach nicht stimmen„):

… Doch dann laufen die Menschen plötzlich auseinander: Die gefürchtete Revolutionsgarde fährt mit Motocross-Rädern in die Menge, rammt Menschen, die Männer treten um sich. Polizei zu Fuß knüppelt wahllos auf Unbewaffnete ein. Eine alte Frau wird von Uniformierten zu Boden geschlagen.


*Eine Fußnote: Was genau der Begriff „Holocaust-Leugner“ bedeutet, lässt sich am besten aus diesem Ausschnitt eines Spiegel-Interviews vom 11.04. 2009 herauslesen:

SPIEGEL: Sie sprechen von Israel, einem seit vielen Jahrzehnten weltweit anerkannten Uno-Mitgliedsstaat. Was machen Sie eigentlich, wenn eine Mehrheit der Palästinenser für eine Zweistaatenlösung votiert, also das Existenzrecht Israels anerkennt?

Ahmadinedschad: Sollten sie sich dafür entscheiden, müssen alle diese Entscheidung akzeptieren …

SPIEGEL: … dann müssten auch Sie Israel anerkennen. Einen Staat, den Sie laut früheren Aussagen „von der Landkarte löschen“ wollen. Sagen Sie uns doch, was Sie wirklich gesagt und wie Sie es gemeint haben.

Ahmadinedschad: Lassen Sie es mich scherzhaft so formulieren: Warum haben die Deutschen damals so viel Unruhe gestiftet, dass es überhaupt zu diesen Problemen gekommen ist? Das zionistische Regime ist das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. Was hat das alles mit dem palästinensischen Volk zu tun? Was mit der Region Nahost? Ich glaube, man muss das Problem an der Wurzel packen. Wenn man die Ursachen nicht berücksichtigt, gibt es auch keine Lösung.

SPIEGEL: Heißt „an der Wurzel packen“ Israel auslöschen?

Ahmadinedschad: Es bedeutet, die Rechte des palästinensischen Volkes einzufordern. Ich denke, das ist zum Vorteil aller, Amerikas, Europas und auch Deutschlands. Aber wollten wir nicht noch über Deutschland und die deutsch-iranischen Beziehungen sprechen?

SPIEGEL: Darüber sprechen wir doch schon. Dass Sie das Existenzrecht Israels leugnen, ist von entscheidender Bedeutung für die deutsch-iranischen Beziehungen.

Ahmadinedschad: Glauben Sie, dass das deutsche Volk auf der Seite des zionistischen Regimes steht? Glauben Sie, dass dazu eine Volksbefragung in Deutschland durchgeführt werden könnte? Falls Sie so ein Referendum zulassen, werden Sie feststellen, dass das deutsche Volk das zionistische Regime hasst.

SPIEGEL: Wir sind sicher, dass das nicht so ist.

Ahmadinedschad: Ich glaube nicht, dass die europäischen Länder die gleiche Nachsicht gezeigt hätten, wenn auch nur ein Hundertstel der Verbrechen, die das zionistische Regime in Gaza begangen hat, irgendwo in Europa passiert wären. Warum bloß unterstützen die europäischen Regierungen dieses Regime? Ich habe Ihnen das schon einmal zu erklären versucht …

SPIEGEL: … als wir vor drei Jahren über Ihre Leugnung des Holocaust gestritten haben. Wir haben Ihnen nach dem Gespräch einen Film von SPIEGEL TV über die Judenvernichtung im Dritten Reich geschickt. Haben Sie diese DVD über den Holocaust erhalten, haben Sie sich den Film angesehen?

Ahmadinedschad: Ja, ich habe die DVD erhalten. Aber ich wollte Ihnen darauf nicht antworten. Ich glaube, für das deutsche Volk ist der Streit um den Holocaust kein Thema. Das Problem liegt tiefer. Im Übrigen: Noch einmal vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie sind Deutsche, wir schätzen die Deutschen sehr

Es geht dann auch noch interessant weiter:

SPIEGEL: Am 12. Juni ist in Iran Präsidentschaftswahl. Sie gelten als Favorit. Werden Sie gewinnen?

Ahmadinedschad: Warten wir’s ab, neun Wochen sind eine lange Zeit. In unserem Land gibt es keine Gewinner und damit auch keine wirklichen Verlierer.

SPIEGEL: Werden Sie im Falle Ihrer Wiederwahl der erste Präsident der Islamischen Republik Iran sein, der einem amerikanischen Präsidenten die Hand gibt?

Ahmadinedschad: Was meinen Sie?

SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Westerwelle-Connection

Ich war gestern mit dem Fahrrad in der Stadt, um einige kleinere Dinge zu erledigen. Ich entschied mich, noch schnell bei Aldi etwas Waschmittel zu besorgen und wollte gerade vom Marktplatz auf den Kirchplatz einbiegen, als eine Veranstaltung mit etwa 300 Leuten das Weiterfahren verhinderte: Auf einer Bühne stand Guido Westerwelle an einem Rednerpult und redete zu einer farblosen Menge politisch klingende Sachen.

Neben ihm standen der hessische FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn, der nur selten zu Westerwelles Worten applaudieren konnte, weil er seiner Wichtigkeit durch die ständige Benutzung seines Blackberrys Ausdruck verleihen wollte, Silvana Koch-Mehrin, deren recht hübsches Gesicht auf nahezu allen FDP-Plakaten zu sehen war, als wolle die FDP allen zeigen: „Wir sind nicht (nur) schwul!“, sowie ein für mich unbekannter Europagewählter und am Schluss der Reihe Hermann Otto Solms, ehemaliger Bundestags-Vizepräsident, der meine Erinnerung schmunzeln ließ: Ich hatte in dessen Sekretariat Anfang 2005 angerufen, um ihn spontan auf eine Podiumsdiskussion einzuladen (Hochschulen im Wettbewerb), wo Nelson Killius sich einen Killius geleistet hatte und uns 3 Tage vor Termin nach monatelanger Zusage agesagt hatte und somit ein neuer neoliberaler Part besetzt werden musste. Für den war aber einfach kein Ersatz zu finden, sodass ich in absoluter Verzweiflung im Büro von Hermann Otto Solms anrief und eine seiner Sekretärinnen bat, ihn anzufragen, ob er in drei Tagen nicht Lust habe, nach Gießen zu kommen und an einer Diskussionsrunde teilzunehmen. Sie versprach mir, ihn zu fragen und mich zurückzurufen, sobald sie eine Antwort habe. Sie rief mich dann tatsächlich zurück, um mir seine Absage mitzuteilen, was ich sehr nett fand.

Nach einem kurzen Flashback schob ich mein Fahrrad zwischen vereinzelt rumlungernden Polizeibeamten hinter der Bühne vorbei und wollte gerade wieder weiterfahren, als mir in der Menge das einzige Transparent ins Auge stach. Es war weiß und mit roter Schrift forderte da ver.di den gesetzlichen Mindestlohn, befestigt an je einer Dachlatte, um es weit über die Köpfe der Menge in den Himmel halten zu können. Nicht nur farblich und inhaltlich fiel es auf, es war auch überhaupt das einzige Message-Utensil in der Menge – keine FDP-Fähnchen oder -Schilder zum Hochhalten waren zu sehen, gelbe FDP-T-Shirts waren nur auf der Bühne sichtbar bei einer Reihe von jungen Partei-Zinnsoldaten, deren interessante Aufgabe es zu sein schien, die Emotionen, die Westerwelles Rede an bestimmten Stellen hervorrufen sollte, für die Menge sichtbar darzustellen und umso heftiger zu applaudieren je mehr entschlossenes Handeln gerade über die Lautsprecher gefordert wurde. Jedenfalls dachte ich mir, dass ich vielleicht den ein oder anderen derer kenne, die sich dort unter dem ver.di-Transparent versammelt hatten, also ging ich hin. Und tatsächlich wurde der rechte der beiden Stöcke von einem guten Freund gehalten, den ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ich gesellte mich zu ihm und stellte mich mittig unter das Banner. Wir begannen ein etwas längeres freundschaftliches Gespräch. Dabei erzählte er mir, dass vorhin eine Gruppe von Aktivisten, die sich nun unter dem Transparent wieder gesammelt hätten, sich auf den hinter der Bühne befindlichen Kirchturm begeben hätten, um ein anderes, größeres Banner zu entrollen. (Eine äußerst bemerkenswerte Randpointe: Als ich fragte, was denn dort drauf gestanden habe, musste sich erst durch drei der Entroller durchgefragt werden, bis mir der Spruch genannt werden konnte. Es war irgendwas mit „Kapitalismus„, ich habs vergessen. Es war einigen sichtlich peinlich, dass sie mir nicht sofort die genaue Botschaft nennen konnten.) Bei der Aktion hätten sie sich, um auf den Kirchturm zu gelangen, als Geographiestudenten ausgegeben, die Stadtvermessungen vornehmen wollten. … Naja, auf jeden Fall bekamen sie so gegen 10€ Pfand den Schlüssel vom Wärter, der sich, nachdem der Trupp unter Polizeibegleitung vom Turm geführt wurde, entrüstet gezeigt habe: „Das hättet ihr mir doch sagen können!“ Seine Worte klangen beinahe so, als hätte er mitgeholfen, wenn ihm der Sinn der Aktion bekannt gewesen wäre. Die 10€ Pfand bekamen die Störenfriede selbstverständlich zurück…

Jedenfalls stand ich nun unter dem ver.di-Transparent neben meinem Freund und als wir nach einer längeren Plauderei gerade dabei waren, einen Termin zum Kickern auszumachen, um dabei ein Bier zu trinken, wurden wir von Guido Westerwelle am Rednerpult jäh unterbrochen – und einer Menge feindseliger Blicke, die sich zu uns umdrehten und uns Dinge wie „Jawoll, so sieht nämlich die Wahrheit aus!“, „Du hast keine Ahnung, der weise Mann da vorne hat dir gerade gezeigt, wo’s intellektuell langgeht!“ oder auch einfach nur „Abschaum!“ entgegenschauten. Es war einfach krass zu sehen, wie aggressiv Blicke sein können. Auch die Partei-Zinnsoldaten schauten uns grimmig, fast mordlüstern von der Bühne an und schienen nur auf die nächste passend intonierte Stelle in der Rede zu warten, um uns mit Gewehrsalven ihres Applauses niederzumähen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Blicke der anderen etwas beruhigt hatten und sich dem Redelsführer wieder zuwandten. Am meisten ärgerte mich, dass wir durch diese Unterbrechung beinahe vergessen hätten, einen Termin zum Kickern auszumachen, glücklicherweise erinnerten wir uns aber wieder daran, bevor ich nach einer kurzen Weile wieder ging, sodass uns kein Schaden entstand.

Noch eine Randpointe fand dann unterwegs zu Aldi in meinem Kopf statt: Es war natürlich bei der ganzen Veranstaltung auch die Presse anwesend, so auch ein Kameramann vom hessischen Rundfunk. Der hielt irgendwann, als ich so hübsch mittig unter dem ver.di-Transparent stand, mitten auf uns drauf, sodass ich dachte: „Mensch, ich bin bestimmt heut Abend in der Hessenschau!“ Dann erinnerte ich mich an die Aktion mit dem Banner, das vom Kirchturm entrollt wurde, bei der auch von der Polizei einige Personalien aufgenommen wurden und ich dachte: „Hm, wenn der Hessenschau-Bericht nun von ‚Krawallmachern‘ spricht und dazu dieses Bild zeigt, dann könnte ich kommende Woche in der Schule in Rechtfertigungsschwierigkeiten kommen.“ … Der Bericht in der Hessenschau fiel allerdings langweilig aus: In etwa 30 Sekunden wurde nur kurz die Bühne gezeigt und für etwaige Störungen oder andere Meinungen war kein Platz. Schade.

Ein einsamer Gedanke zum Schluss: Die ca. 55-jährige Kassiererin, die mein Waschmittel schließlich abbuchte, zeigte sich ziemlich unbeeindruckt von meinen Gedanken zu FDP, Mindestlohn und Kapitalismus. Ich habe den Eindruck, dass es eher irgendeine persönliche Scham ist, die sie mit ihrer intensiven Bräunungscreme und den wasserstoff-blondierten Haaren zu übermalen versucht.

Im Würgegriff des Stress

So, jetzt ist das Gejammer der Referendare auch bei mir angekommen: Ich bin soo im Stress…

Nicht dass dies Geschreibe einzig und allein eine Ausrede werden soll, warum hier in den letzten vier Wochen  nichts passiert ist. Stattdessen finde ich es einfach krass, zu sehen, was der Stress so aus einen macht: Ich kann nicht mehr gut schlafen, wache mit Übelkeit auf und zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, muss ich mich zwingen, was zu essen. Das will was heißen…
Das wirklich blöde ist nur, dass meine Arbeit gar nicht in Produktivität zu messen ist. Was mich in Stress versetzt, ist die äußere Unstruktiertheit, die eine innere nach sich zieht. Das hängt in gewisser Weise mit dem fragmentierten Lernen in der Lehrerbildung zusammen, auch wenn ich das damals noch nicht so konkret am eigenen Leib erfahren hab.

Um mein Problem etwas klarer werden zu lassen: Ich habe am Montag einen Unterrichtsbesuch im Fach Deutsch. Dazu muss man eine ausführliche Stundenvorbereitung schreiben, wo man auf etwa 8-10 Seiten präzise darlegt, wie die Lernausgangslage der Schüler ist und wieso man die Unterrichtsstunde genau so plant und nicht anders. Nach der eigentlichen Stunde bespricht man in einem ausführlichen Gespräch mit seinem Ausbilder dann das gemeinsam erlebte und versucht selbst aufzuzeigen, was gelungen ist und wo man hätte anders handeln sollen. Diese drei Teile ergeben zusammen eine Note auf den gesamten Unterrichtsbesuch. Die unterschiedlichen Unterrichtsbesuche erfolgen je nach Modul unter verschiedenen Schwerpunkten. Der Besuch am Montag findet im Fachmodul Deutsch statt mit dem Schwerpunkt ‚Schreiben‘. Das bedeutet, dass ich nicht zeigen kann, was ich möchte, sondern ich muss den systematischen und – wenn ich eine möglichst gute Bewertung haben will – persönlichen Ansprüchen der Ausbildung und der Ausbilders gerecht werden. Gleichzeitig muss ich aber auch den Ansprüchen der Schüler und der Lehrer an der Schule gerecht werden. Das alleine erzeugt schon eine gewisse Zerrissenheit. Hinzu kommt dann bei mir noch der Umstand, dass die Stunde heute nicht so lief, wie ich wollte, weil die Schüler eben nicht immer das machen, was man will (was ja im Grunde ganz sympathisch ist). Jetzt steh ich vor dem Problem, dass ich das, was ich für Montag eigentlich geplant hatte, nicht wirklich sinnvoll machen kann. Ich muss also jetzt noch schnell kreativ werden und diese Kreativität in eine Form bringen.

Der wirkliche Stress wird aber dadurch erzeugt, dass der Rahmen allerdings immer unklar ist. Wenn die Rahmenbedingungen, die Struktur, die mit Arbeit gefüllt werden will, immer diffus vor einem her flimmert, kann man nur schwer entspannen. Oder anders gesagt: Wenn klar ist, was zu tun ist, fällt das Arbeiten – oder vieleicht besser: die Produktivität – leicht. Der Stress entsteht nicht durch die Arbeit selbst und durch die Menge an Arbeit, sondern dadurch, wie klar strukturiert man die Kontur verinnerlichen kann.
Und meine Ausbildung erfordert eben das Lernen in Fragmenten…

Der Händedruck ging von Obama aus

Am Rand des Gipfels kam es am Freitag zu einer ersten persönlichen Begegnung zwischen Obama und dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Die beiden Staatsmänner schüttelten sich zu Beginn der Konferenz die Hände und wechselten einige Worte.

Der Händedruck sei von Obama ausgegangen, teilte das venezolanische Präsidialamt mit. …

(Spiegel-Online, 18.04.09)

Wer es nötig hat, sich zu rechtfertigen, warum er jemandem die Hände geschüttelt hat bzw. deutlich zu machen, dass er diesem jemand nur die Hand gegeben habe, weil der sie ihm zuerst gereicht hat, hat schwere Komplexe und leicht schizophrene Züge:

Theory of Mind ist definiert als die Fähigkeit, Gedanken, Intentionen und Emotionen anderer Menschen korrekt vorherzusagen. Frith postulierte, dass Defizite in der Theory of Mind – Fähigkeit und somit kognitive Repräsentationen von falsch identifizierten Intentionen und Emotionen anderer Menschen die Entstehung von paranoiden Wahnüberzeugungen begünstigen können. …

Zahlreiche Untersuchungen deuten an, dass Defizite schizophrener Patienten in der sozialen Kompetenz bereits vor Erkrankungsbeginn bestehen … . Es bestehen Hinweise darauf, dass Defizite in der sozialen Kompetenz in Zusammenhang mit Defiziten in der Theory of Mind – Fähigkeit schizophrener Patienten stehen. … In einer ersten Studie konnte nachgewiesen werden, dass Defizite im Erkennen von Emotionen anderer Menschen in Zusammenhang mit Defiziten schizophrener Patienten in der sozialen Kompetenz stehen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass soziale Kompetenzdefizite bei schizophrenen Patienten indirekt durch Trainings in der Emotionserkennung wie z.B. das Metakognitive Training verbessert werden könnten.

(Schizophrenie-Forschung an der Uni Marburg)

Überhaupt gewagter präsidialer Stil für Einen, der der höchste Repräsentant einer Gesellschaft ist, wie man meinen könnte.

Kritik als demokratische Kultur

Wirklich interessanter und auch kurzer Artikel auf Spiegel-Online zum Duckmäusertum im Bundestag. Vorgestellt wird die Meinung von Peter Gauweiler aus den Reihen der CSU, der uns offenbart, dass man auch anders denken kann als nur in vorkategorisierten Blöcken. Einen Namen gemacht hat sich Gauweiler nicht zuletzt durch die Klage gegen den Lissabon-Vertrag, dem er, laut eines Artikels der Süddeutschen Zeitung, den man auf seiner Homepage runterladen kann, Demokratiedefizite vorwirft. Neben ihm klagte übrigens auch Die Linke gegen den Lissabon-Vertrag; das macht vielleicht deutlich, dass Demokratie bedeutet, auch solches Lagerdenken zu überwinden und sich zu inhaltlichen Gegnern oder Verbündeten zu erklären und dies nicht an schon zuvor gefestigten Kategorien festzumachen.

Die Vorgehensweise beim Lissabonvertrag hat mich übrigens schwer an eine SV-Stunde erinnert, die wir in der 9. oder 10. Klasse mal durchgeführt hatten. Ich weiß gar nicht, ob ich da noch stellvertretender Klassensprecher war, ich glaube aber nicht. Jedenfalls gings in der SV-Stunde um das Ziel eines Wandertags und ums abzukürzen: Wir haben so oft abgestimmt, bis das richtige Ergebnis rauskam. Unsere (politisch sehr engagierte) Klassenlehrerin merkte dann auch mal an, dass das ein unzulässiges Verfahren und sie damit nicht einverstanden sei. Ich weiß jetzt gar nicht mehr genau, worum es ging und wo wir schließlich hin sind, aber irgendwie ist das das gleiche Prinzip, wenn der EU-Vertrag in manchen Ländern gescheitert ist, jetzt den schon älteren Lissabon-Prozess aus dem Hut zu zaubern und darin die Inhalte zu verpacken, „damit die Holländer und Franzosen nicht ins Grübeln kämen, warum sie dieses Mal nicht abstimmen dürften“, wie es im angesprochen SZ-Artikel heißt.

Gesine Schwan setzt sich mit ihrer Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten übrigens für eine stärkere demokratische Kultur ein. Und dabei geht es ihr, wenn ich das richtig beobachtet habe, erst zweitrangig darum, Bundespräsidentin zu werden, sondern vor allem um den Kampf, die inhaltliche Auseinandersetzung, wodurch man demokratische Kultur kaum besser aufzeigen kann.

Ich merke grade, dass irgendwie unklar ist, wohin dieser Artikel führt. Um mal einen Punkt zu machen: Mir ist es wichtig, hervorzuheben, dass es Kritik an den derzeitigen demokratischen Verhältnissen nicht nur bei den linken Spinnern gibt, die ja sowieso gegen alles sind. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen das, was diese Welt zusammenhält, in Frage gestellt wird, ist es so wichtig, für etwas zu sein und nicht nur dagegen. Und da ist es umso wichtiger in Zeiten wie diesen, darauf aufmerksam zu machen, dass Demokratie nicht unumkehrbar ist. Umso bemerkenswerter, dass solche Hinweise eben nicht nur von denen kommen, deren Stimme man eh nur noch als Gemecker vernimmt.

Die Passion Christi

Ich war gestern bei einer Filmvorführung in der FEG in Wissenbach, wo anlässlich der jetzigen Feiertage der Film „Die Passion Christi“ gezeigt wurde (mit offiziell lizenzierten Vorführrechten, wie der Veranstalter nicht müde wurde zu betonen – wobei ich immer gedacht hatte, wenn man das nicht kommerziell macht sondern quasi vereinsintern, braucht man dafür keine Lizenz, aber: ich scheine mich geirrt zu haben; oder zählt ein Vereinshaus zu den eigenen vier Wänden?).
Auf jeden Fall hatte ich den Film noch nicht gesehen – war eigentlich nie so scharf drauf – und dachte mir, dass ich das ja jetzt mal nachholen könnte. Ich muss zugeben, dass ich schon vorurteilsbeladen in den Film gegangen bin, sowohl weil man mich wohl als Christ bezeichnen könnte als auch weil ich wenig von Versuchen halte, inneren Wahrheiten eine (scheinbar unabänderliche) äußere Gestalt zu geben.

Und so fand ich den Film dann auch wirklich nicht gut. Was teilweise an Gewaltdarstellungen zu sehen war, war tatsächlich schon krass, aber mir haben sich dann doch auch einfach Details aufgedrängt wie der faltenwerfende Latexüberzug, auf dem die Maske die Wunden des Jesus-Darstellers anfertigen konnte. Sah man stellenweise halt einfach. Auch der Szene, in der er von diesen fiesen, sadistischen römischen Soldaten ausgepeitscht wird mit dieser Peitsche mit Widerhaken, die sich in seine Seite bohren und Fleischfetzen herausreißen, sah man deutlich die Computeranimiertheit an. Es ist halt doch nur irgendwie ein Film, der sich den Kriterien der Filmtechnik unterwerfen muss, auch wenn er etwas Heiliges thematisieren möchte.

Krasser in dem Zusammenhang der Gewaltdarstellung war für mich übrigens das Ausufernde, in dem das Ganze dargestellt wurde. Es war die ganze Zeit der Zeigefinger der Moral zu spüren, der mir sagen wollte: „Schau dir an, wie sehr er leiden musste! Das ist das Schlimmste, was jemals ein Mensch hat ertragen müssen!“ Und irgendwie bin ich nach dem dritten zusammenbrechenden Hinfallen der Jesus-Figur auf dem Weg zur Kreuzigung abgestumpft. Da konnte auch die gefühlsbestimmende Hintergrundmusik mir beim besten Willen nicht mehr helfen… (Ein Nebengedanke: Ist das Leid, das man bei einem geliebten Menschen mitansehen muss, für einen selbst nicht um ein Vielfaches stärker als jenes, welches man selbst aus freiem Entschluss erduldet? Insofern muss unser Gott ein über alle Maße leidender Gott sein, wenn er seine Menschen liebt…)
Was mich an dem Film aber wirklich zutiefst empören ließ (innerlich, ich hab niemandem in dem Saal seine Gefühle zu der Sache streitig machen wollen), war die echt albern wirkende Teufelsdarstellung. Gleich zu Beginn, nachdem dieser Jesus im Garten Getsemane mit Gott um die Unabänderbarkeit des Bevorstehenden ringt, seine Jünger dann schlafend statt wachend vorfindet und sich anschließend abermals ins Gebet stürzt, erscheint von der Seite eine bleiche, mit einem schwarzen Tuch umhüllte Figur, die mich andauernd in meiner lückenhaften Erinnerung der Schilderungen in den Evangelien erfolglos nach ihr stöbern ließ. Es sollte wohl Satan, die Schlange, in Person sein; weder Mann noch Frau, ganz das hinterlistig Böse verkörpernd wollte er wohl diesen Jesus versuchen, damit der sein Schicksal ändere. So zumindest hab ich das verstanden. Der erste Gedanke, als ich diesen Typen sah, war: „Meeiiin Schaaaaatz“ … Er tauchte dann auch immer wieder auf, mal als Schatten, als der Verräter Judas von Kindern (, die mit dämonenverzerrten Fratzen wohl seine teufelsgegebenen Wahnvorstellungen sein sollten,) aus der Stadt gejagt wird und sich bei einer von Maden zerfressenen Eselsleiche (jener Esel, der zuvor noch mit Palmwedel in Jerusalem begrüßt wurde?) das Leben nimmt, mal mit einem missgebildeten Kind/Kleinwüchsigem auf dem Arm, während er an der Geißelungsszenerie an der Jesus-Figur seltsam süffisant vorbeischreitet. Seinen entscheidenden Auftritt hat er dann am Schluss, als dieser Jesus am Kreuz seinen letzten Atem ausstößt. Satan wird da am Boden kniend, die Hände emporstreckend und mit einem Schrei der endgültigen Niederlage dargestellt, während die Kamera, den Blick nach unten auf Satan gerichtet, in bester Dramaturgiemanie in den Himmel entfährt.
Alles schwer albern, wie ich fand.
Auf Wikipedia ist übrigens zu lesen, dass der Film historisch gar nicht so korrekt ist, wie er sich in seinem deutsch untertiteltem Aramäisch/Latein gibt. Auch ist die Story des Films aus den vier Evangelien zusammengewürfelt und einige Begebenheiten waren mir völlig neu.
Bleibt zum Abschluss der Kritik noch die Frage an alle, die den Film schon mal gesehen haben: Welche Augenfarbe hatte dieser Jesus? Und warum?

Aber wie dem auch sei, einigen bei der Filmvorführung schien Mel Gibsons Film recht nahe gegangen zu sein und auch irgendwas Inneres berührt zu haben – das will ich niemandem nehmen. Nur war das bei mir nicht so und so ist es dann auch zu erklären, dass ich nach Filmende, als alle zutiefst betroffen geschwiegen haben, ich in die Stille ziemlich nervig mit dem Schlüsselbund geklimpert hab, penetrant lange, weil ich noch jemandem einen Schlüssel zurückgeben wollte, den ich mir geliehen hatte und ich befürchtete, es sonst zu vergessen. Hab dann erst danach gerafft, dass alle so ruhig waren, weil sie tief betroffen waren. Etwas ungeschickt von mir, war aber keine böse Absicht. Wie das halt so ist mit Fettnäpfchen…

Der geilste Satz des Abends soll dann hier auch noch Erwähnung finden. Der Filmvorführer erzählte zu Beginn eine Kleinigkeit über den Film und eben auch über Mel Gibson, als er den wahrhaft pointierten Satz (unabsichtlich, dessen bin ich mir doch ziemlich sicher) äußerte: „Mel Gibson ist streng katholisch erzogen worden; trotzdem steht er fest im Glauben.“

Mein abschließendes Fazit, bewusst provozierend: Mir sind Jesus-Verfilmungen wie „Das Leben des Brian“ lieber, in denen nicht der Anspruch erhoben wird, die Wahrheit abzubilden. Mit denen kann man ehrlicher umgehen, weil sie viel leichter zu durchschauen sind.

Vielleicht richtet sich meine (lange und stellenweise ausufernde Kritik) ja auch gegen das, was Drewermann im Johannesevangelium mit „Gottesbesitzer“ übersetzt hat (ich hab vor Kurzem schon mal auf Drewermanns Johannsevangelium hingewiesen). Und so will ich zum Abschluss allem Abbilden von Wahrheit nicht den Satz aus 2. Mose 20,4: Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. stellen, sonder vielmehr Jesus selbst zu Wort kommen lassen, als er im Zusammenhang mit der Heilung eines Blindgeborenen einigen Pharisäern (=Gottesbesitzern) offenbart:

Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, auf daß die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. [Und] etliche von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so würdet ihr keine Sünde haben; nun ihr aber saget: Wir sehen, so bleibt eure Sünde. (Johannes 9,39ff)

An den Lippen kleben

Auszug aus einem Artikel auf Spiegel-Online, wo über eine Untersuchung berichtet wird, in der autistischen und nicht-autistischen kleinen Kindern zwei gleiche Zeichentrickfilme zeitgleich – der eine normal vorwärts, der andere rückwärts auf dem Kopf stehend – mit einer einzigen Tonspur (passend zum normal ablaufenden Film) gezeigt und die Fokussierung der Kinder beobachtet wurde:

Die Übereinstimmung der rhythmischen Bewegungen und der rhythmischen Sprechweise fasziniere die Kinder noch mehr als das Klatschen allein, schreiben die Forscher. In dieser Faszination für Synchronität sehen die Wissenschaftler daher den Grund dafür, dass Autisten ihrem Gegenüber beim Sprechen am liebsten auf den Mund sehen.

Ich musste – daran werde ich heute immer noch erinnert, wenn ich mich dabei ertappe, meinem Gesprächsgegenüber nur auf den Mund zu starren – mir früher erst mühsam antrainieren, dass es für den anderen angenehmer ist, wenn man ihm in die Augen als auf den Mund schaut, wenn er redet. Dabei fällt mir auch heute noch auf, dass es mir leichter fällt, das Gesagte zu merken, wenn ich nicht nur zuhöre sondern auch die passenden Lippenbewegungen zu den gesprochenen Wörtern sehe.

Soviel nur dazu, weil ich neulich schon in ähnlicher Weise meine Sichtweise auf Autismus angedeutet habe.  Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr glaube ich einfach, dass autistische Verhaltensweisen vor allem dazu beitragen, den „normalen Leuten“ einen Spiegel vorzuhalten und deren vermeintlich menschlichen Verhaltensweisen in Frage gestellt zu sehen.

Frühkindlicher Autismus ist eine Entwicklungsstörung, bei der verschiedene Teile des Gehirns nicht richtig zusammenarbeiten und vor allem die soziale Interaktion mit der Umwelt stark beeinträchtigt ist. In der Folge kapseln sich autistische Kinder stark von ihrer Umwelt ab. Viele Forscher und Mediziner vermuten, dass bei ihnen die sogenannten Spiegelneuronen nicht genügend aktiviert werden. Diese Neuronen ermöglichen es, andere Menschen nachzuahmen und sich in den Gegenüber hineinzuversetzen.

Man kann natürlich in einer bei Autisten gesteigerten Faszination für Synchronität die Ursache für das beschriebene Verhalten finden. Allerdings ist es vielleicht viel naheliegender, dass sich den Versuchspersonen der Sinn einer betrachteten Sache nicht intuitiv erschließt, sondern dass sie erst die Zusammenhänge benötigen, um der Beobachtung einen Sinn zu geben. Das für Nicht-Autisten Selbstverständliche wird unter dieser Voraussetzung eben in Frage gestellt; die Welt wird erst geprüft, bevor sie konstruiert wird. Nicht-autistisches aber echtes Lernen könnte demgegenüber vielleicht als Dekonstruktion von etablierten Auffassungen beschrieben werden…

Update

Hab mir grade noch mal durchgelesen, was ich da gestern geschrieben hab: Abgesehen davon, dass ich mir (nicht nur hier) unsicher bin, ob das denn auch alles wenigstens halbwegs stimmt, was hier steht, musste ich feststellen, dass vor allem der letzte Absatz wirr und unzusammenhängend rüberkommt. Ich versuchs, nochmal klarzumachen:

Ich verstehe den Begriff ‚Lernen‘ als das Durchdringen von Welt, also alles, was wir irgendwie wahrnehmen können, verstehen zu wollen. Dazu behelfen wir uns üblicherweise Begriffen und Kategorien, die zusammengenommen unserer Sicht auf die Dinge einen Sinn geben. Diese kategorischen Hypothesen benötigen wir, weil wir ja irgendetwas annehmen müssen, irgendeine Erklärung brauchen, die dann die Grundlage weiteren Lernens sein kann. Jetzt ist es nur so, dass wir im Lauf der Zeit verschiedene Vermutungen als falsch erkennen und bisherige Sichtweisen also dekonstruieren. Deswegen würde ich einfach mal so behaupten, dass die konstruktivistische Sichtweise von Lernen – jeder entwickelt eine eigene Sicht auf die Dinge, die dann kommuniziert und also angeglichen werden aber nicht grundsätzlich falsch sein kann – in Wahrheit einen dekonstruktivistischen Vorgang beinhaltet. Alte Weltbilder und Sichtweisen erweisen sich als unzureichend und werden durch neue, plausiblere Hypothesen ersetzt (übrigens sowohl individuell- als auch menschheitsgeschichtlich betrachtbar).

Meine gewagte These lautet jetzt: Vielleicht ist die oben beschriebene autistische Beobachtungsweise keine thesengeleitete also dekonstruktivistische sondern von ihrem Wesen her unvoreingenommener, naiver, also unmittelbar dem jeweiligen Sinn aus der Beobachtung selbst konstruierend…

(Ohne dass das alles so wirklich stimmen muss hoffe ich, dass es jetzt klarer geworden ist, wie ich drauf gekommen bin.)

PS: Bei dem geilen Wetter werd ich jetzt wohl mal wieder Fahrrad fahren müssen. Hab mich den ganzen Winter drum gedrückt, aber der Sonnenschein entdeckt meine Ausreden…

Fragmentierte Zeit

Genau wie das fragmentierte Lernen sorgt der Zeitmangel während der Lehrerausbildung für innere Zerrissenheit – und Zeitmangel… Nicht dass ich mich allein damit rausreden will, dass ich wegen dem Stress der Ausbildung recht wenig in letzter Zeit geschrieben hab – ich bin, wie angekündigt, zurzeit auch am Umziehen. Aber dennoch bleibt die unumstößliche Tatsache, dass man den Kopf nicht einfach nach abgelaufenem Workload abschalten kann, wenn man mal wirklich schlechten Unterricht hinter sich hat…

Aber wie dem auch sei: Es gibt ja auch günstige Momente, in denen ich etwas Zeit habe. Jetzt ist grade so einer. Ich wollte grade meine kleine Kommode zusammenbauen, nachdem ich vorgestern das unbehandelte IKEA-Holz geschliffen und mit ner Lasur eingestrichen hab. Ich bin dabei wie ein Mathematiker vorgegangen. Mein Mathelehrer sagte früher öfter mal, um eine neue Rechenmethode einzuführen, die wohl irgendwas vereinfachen sollte: „Mathematiker sind von Natur aus faul.“ Das ist übrigens das Einzige, das ich mir aus Mathematik behalten habe. Neulich fragte mich eine Schülerin aus der 7H, wie man eine Matheaufgabe löst, da eine Arbeit in der darauffolgenden Stunde anstand – nebenbei bemerkt scheinbar ein noch höherer Effizizenzgrad der Prüfungsvorbereitung, als ich ihn je perfektioniert hätte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie die Aufgabe gelöst werden sollte. (Und das, obwohl ich mir in Wissenbach schon den Ruf erarbeitet hab, Mathematik studiert zu haben und sogar schon mal eine Stunde Mathenachhilfe gegeben habe, in der mir der Schüler mehr beibrachte, als ich ihm…) Ich weiß übrigens nicht, was das Mädchen in der Arbeit geschrieben hat, aber ich betrachte es schon als Erfolg, dass ich sie nach einem emotionalen Gespräch überzeugen konnte, die Mathearbeit mitzuschreiben und nicht einfach abzuhauen…

Ich bin also beim Lasurauftragen wie ein Mathematiker vorgegangen und hab mir am Aufbauplan angeschaut, welche Holzteile ich lasieren (gibts das Wort? – scheinbar schon) muss. Jetzt ist es nur so, dass eine gewisse Dialektik im Satz „Mathematiker sind von Natur aus faul.“ auf der Inhaltsseite zu finden ist: Man muss die Mathematik beherrschen, um ein fauler Mathematiker zu sein. Oder einfacher gesagt: Ich hab ein Holzteil übersehen und musste jetzt während des Aufbaus noch mal ein Stück lasieren, das natürlich jetzt erstmal trocknen muss. Und das bedeutet, dass ich grade mal wieder Zeit habe, einen (bereits abgekühlten) Pfefferminztee zu trinken und den ein oder anderen Blogeintrag zu machen.

Ich hoffe, es bleiben nicht solche günstigen Momente der Zeit, die ich meinen fragmentierten Unfähigkeiten verdanke, um diese Seite auch weiterhin während der Ausbildung am Leben zu erhalten.

Fragmentiertes Lernen

Wie der geneigte Leser dieses Blogs schon mitbekommen haben mag, befinde ich mich derzeit im Referendariat (offizielle Bezeichnung: Lehrer im Vorbereitungsdienst). Ich habe dabei noch etwas mehr als ein Jahr vor mir, bis ich mit dieser Ausbildung fertig bin und mein zweites Staatsexamen abgeschlossen haben werde. Ich stelle dazu in letzter Zeit fest, dass jegliches Lernen, das in diesem Rahmen stattfindet, nur in Fragmenten, sprich: zusammenhangslos, für sich allein genommen stattfindet. Ich bin mir nicht sicher, ob das einzig und allein der noch recht jungen Modularisierung der Lehrerausbildung zu verdanken ist.

Klammer auf:
Modularisierung beschreibt ein neues Organisationsprinzip, das Studiengänge in einzelne Studiengangselemente zerlegt, mit denen eine definierte Teilqualifikation erworben werden kann. Die verschiedenen Module sollen in unterschiedlicher Form kombinationsfähig gehalten werden und sich zu einem individuell zusammengestellten Studiengang mit einem individuellen Qualifikationsprofil zusammenfügen. Die Absolventen können ihr Studienverhalten und die gewählten Schwerpunkte damit flexibler an eigenen Interessen, aber auch an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes bzw. andere Abnehmer ausrichten.

Klammer zu:
Module scheinen in besonderer Weise geeignet zu sein, die Zersplitterung und Fragmentierung von Studiengängen, die derzeit nach Semesterwochenstunden eingeteilt sind, durch sachbezogenen und gegenstandsbezogene Organisationsformen zu ersetzen und die Studierbarkeit zu erhöhen aber auch Interdisziplinarität und damit einen verstärkten Gegenstandsbezug zu ermöglichen. Das gilt in ganz besonderer Weise für die immer wieder als „ortlos“ beschriebene, über die verschiedensten Fachbereiche verteilte, an ganz unterschiedlichen Wissenskulturen orientierte Lehrerbildung.

Ich glaube, dass die Umsetzung der Modularisierung (zumindest meine Erfahrung aus der Beobachtung im Studium und dem Erfahren im Referendariat) dem Prinzip des fragmentierten Lernens Vorschub leistet (und widerspreche damit Radtkes Auffassung).

Ein ähnliches Prinzip wie das der Modularisierung finden wir übrigens in der traditionellen deutschen Schule mit ihren Fächern, über die Woche verteilten Einzelstunden und vielen verschiedenen Lehrern als Lernaufseher (böse formuliert). In diesem Zusammenhang ist es äußerst interessant, sich die Rahmenstrukturen in den so genannten Reformschulen anzuschauen, in denen offene Unterrichtsformen „ausprobiert“ werden und in einen größeren, alternativen schulischen Rahmen gestellt werden. Entgegen dem landläufigen Verständnis von offenem Unterricht = Beliebigkeit und unstrukturierte Unterrichtssituation sind die Rahmenbedingungen – richtig angewendet – sehr klar strukturiert. Diese klare Strukturierung ermöglicht erst den inneren Freiraum des Lernens.

Zurück zum fragmentierten Lernen: Das Wesen von offenem Unterricht bzw. Reformschulen wie der Bodenseeschule St. Martin ist auch das Lernen in Zusammenhängen. So ist die Projektarbeit wesentlicher Bestandteil des Unterrichts in der Reformschule Kassel. Dort arbeiten, grob gesagt, Schüler allein oder in kleinen Gruppen an einem Thema über mehrere Wochen und präsentieren dann ihre Ergebnisse. (Der Lehrer steht dabei als Berater dem Schüler zur Seite.) Was im Rahmen eines herkömmlichen Schulverständnisses „fächerübergreifender Unterricht“ genannt wird – und somit schon im Begriff die Ausnahme von der Regel verankert wird –, findet hier selbstverständlich und kontinuierlich statt: das Lernen in Zusammenhängen.

Für die Lehrerausbildung bedeutet das nun nicht, dass die Referendare mehr in Projekten innerhalb der Module arbeiten sollten. Vielmehr macht es deutlich, dass ein grundsätzliches Umdenken vonnöten ist. Das derzeit fragmentierte Lernen resultiert im Wesentlichen daraus, dass der theoretische Teil der Ausbildung (die Zeit, die ich in Modulen verbringe) völlig diffus zum praktischen Teil (die Zeit, die ich in und mit der Schule verbringe) steht. Die Forderung lautet also nicht, die Modularisierung abzuschaffen. Entscheidend sollte viel eher sein, die Theorie an die Schule zu holen und so die Praxis zu bereichern und die Theorie zu prüfen. Derartige Entwicklungen deuten sich übrigens schon an, zumindest wird in Hessen vereinzelt in diese Richtung gedacht.

Langfristig betrachtet und konsequent gedacht würde das übrigens dahin führen, dass Bildungseinrichtungen wie z.B. Universität und Schule nicht einzeln als separate Einheiten betrachtet werden sollten, sondern sie würden sich vielmehr ineinander drehen und miteinander lernen. Schließlich ist ja auch Bildung an sich ein Wert, der nicht mit irgendeiner Qualifikation oder einem Modul separiert dargestellt und betrachtet werden kann. Dass wir diesen Umstand ständig (systematisch) ignorieren, ist eine ganz andere Sache – nun, eigentlich keine völlig andere Sache, aber doch eine, die jetzt zu weit weg führt und den ohnehin schon viel zu langen Blogeintrag (wer soll das bloß alles leesen) nur künstlich aufblasen würde…

Manche Gewalt hat keine Logik

Nach dem krassen Selbstmord in Winnenden gibt es nach meiner Beobachtung im Fernsehen tatsächlich überwiegend Bestürzung, Trauer – und Sachlichkeit. Natürlich kam bei den Berichterstattungen auch das Thema Verbot von Killerspielen vor und oft wurde auch eine Verschärfung der Gesetzeslage gefordert, um das Erlangen von Waffen zu erschweren. Allerdings wurde diese Thematik überwiegend differenziert behandelt und klar gemacht, dass es um etwas anderes gehen muss, als Verbote auszusprechen (zumindest bei den öffentlich rechtlichen).

Zwar hab ich, was die Gewaltspiele anbelangt, durchaus eine kritische Haltung. Allerdings muss ich dann doch kritisieren, dass die Spezialisten in der Berichterstattung manchmal auf unzählige Studien verwiesen, die den Zusammenhang zwischen virtueller und realer Gewalt klar belegen würden.  Jedoch ist der Konsens verschiedener Untersuchungen eher der, den der Forscher Bert te Wildt wie folgt hier formuliert:

Allein Computerspiele machten jedoch niemanden zum Amokläufer, betonte der Forscher: „Wie bei psychischen Erkrankungen kommen für eine solche extreme Fehlentwicklung mehrere Faktoren zusammen. Ohnehin ist davon auszugehen, dass alle jugendlichen Amokläufer psychisch krank sind, ebenso depressiv wie aggressiv.“

Ich glaube, dass die Formuilierung „mehrere Faktoren“ dabei auch nur synonym sind zu: Wir verstehen nicht, was da bei einem Menschen passiert ist. Und vielleicht ist das das wahrhaft Schreckliche an diesem Amok-Selbstmord: Er hat keine Logik. Denn bei allem was man findet an Gründen, warum Tim starke innere Probleme gehabt haben muss und es ihm nicht reichte, denen in Computerspielen ein Äußeres zu geben, bleibt immer noch die Frage zu beantworten: Warum dann diese ultimative Entscheidung? Die mit all diesen Gründen zu beantworten – und auch die Summe dieser Gründe als Argument anzuführen – reicht zur Erklärung einfach nicht aus. Vielleicht hat manche Gewalt einfach keine Logik.

Trotzdem aufschlussreich: Gewalt spielen, eine Dokumentation von Anja Kretschmer

Und wenn es Garfield niemals gegeben hat? – Depressiv aufhellende Gedanken

Garfield minus Garfield

[…] Das Ergebnis der Retusche ist ein Comicstrip über Garfields Herrchen Jon – und das verstörende Porträt eines Single-Lebens in den amerikanischen Suburbs. „Hattest du je das Gefühl, eine ganze Menge zu verpassen“, fragt Jon den Leser. Wo im Original Garfields leidlich sarkastische Antwort („Ja. Ist das schlimm?“) den Strip zwangspointiert, sind in der neuen Fassung nur zwei Panels mit dem ins Nichts stierenden Jon zu sehen. Keine Erlösung durch dumme Antworten. Nur Leere.

Leere ist überhaupt die alles dominierende Botschaft der „Garfield minus Garfield“-Strips. Da die Originale aus jeweils drei Bildern bestehen und Garfield die Hauptrolle in der Reihe innehat, bedeutet dies für die neuen Versionen, dass in vielen Panels nach der Retusche gar nichts mehr zu sehen ist. Jon, der sich Maiskolben in Mund und Ohren steckt. Und dann: nichts. Jon, der fragt „Wie ist der Salat?“ Und dann: nichts.

Garfield wurde wegretuschiert. Und? Weg ist er damit nicht. Der gedankliche Trick: Natürlich braucht man Garfield, um ihn retuschieren zu können. Der „Garfield minus Garfield“-Strip funktioniert nur, weil es Garfield in Wahrheit gibt. Jons einsame Depression funktioniert nur mit dem gedanklichen Garfield – auch wenn der erst wegretuschiert werden muss…

Vielleicht ist das die dialektische Antwort auf die depressive Gewissheit derer, die die Antwort nicht ertragen können: Das Leben hat einen Sinn. Die Gewissheit, dass das Leben sinnlos ist, kann logisch-dialektisch nur funktionieren, weil es einen Sinn gibt (, der verloren ging, wegretuschiert wurde, was auch immer).
Und: Viel lieber als diejenigen, die sich wie Jon der Resignation hingeben, sind mir doch jene, welche den Kampf gegen die Sinnlosigkeit aufnahmen. Deren Waffe ist interessanterweise das Leid. So wird zum Beispiel im Zusammenhang mit Heinrich Heines Matratzengruft gesagt:

Man mag den Tod ignorieren können, aber nicht den Schmerz. Büchners „Riß in der Schöpfung“, den das „leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom“, erzeugt, läßt vielleicht erst erahnen, daß die Welt eine Schöpfung und also nicht alles ist.
(Navid Kermani: Der Schrecken Gottes, Seite 37)

Dazu (mal wieder) Blumfeld:

Soviel ist klar: Wir sind nicht neu,
Schon lange hier sind wir wie Risse in der Schöpfung. […]

Was mach ich bloß an dieser Stelle,
An der ich längst noch nicht zu mir gekommen bin,
Wo ich mich kreuz und quer zerstreue –
In alle Himmelsrichtungen
Denk ich mich dauernd zu Dir hin.

Ich beende diese Hardcore-Gedanken-Session mit Hiob, dem Ewigen, der von Gott sagt:

Siehe, tötet er mich, ich werde auf ihn warten, nur will ich meine Wege ihm ins Angesicht rechtfertigen.

Das Gesetz der Freiheit

Ich bin gerade dabei, ein wenig zu backen für den Abend heute mit den Leuten aus dem Fronhäuser Hauskreis (, der in Manderbach stattfinden wird), wo ich heute zum letzten Mal sein werde (zumindest fürs Erste, wer weiß, was kommen wird), da ich ja bald nach Gießen ziehe. Auf jeden Fall geht grade der Teig zur The Bedlam in Goliath, Zeit genug also, sich über ein paar Gedanken her zu machen.

Im Gottesdienst heute war ein Wort aus Jakobus dran, wozu verschiedene Leute was gesagt haben. (Immer wenn in der Freien Gemeinde kein Prediger da ist, gibts ne gemeinschaftliche Wortbetrachtung; so eben auch heute.) In Jakobus 1, 19-27 gings offiziell um das Thema „Hören“. Neben den vielen Gedanken der Leute ist mir schon beim Zuhören aber später auch noch durch die vertiefende Auslegung eines Gemeindemitglieds besonders dieser eine Vers mit seinen beiden Vorläufern (23-25, Elberfelder Übersetzung) im Kopf hängen geblieben:

Denn wenn jemand ein Hörer des Wortes ist und nicht ein Täter, der gleicht einem Mann, der sein natürliches Gesicht in einem Spiegel betrachtet. Denn er hat sich selbst betrachtet und ist weggegangen, und er hat sogleich vergessen, wie er beschaffen war. Wer aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineingeschaut hat und dabei geblieben ist, indem er nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes ist, der wird in seinem Tun glückselig sein.

Die Flüchtigkeit dieser Welt – hier der vergessliche Hörer, der das wahrhaftige Wort vergisst wie ein Mensch, der in den Spiegel schaut und sein Selbst alsbald vergisst – ist auch das, was Jakobus etwas später wieder aufnimmt:

Was ist euer Leben? Ein Dampf ist es ja, der eine kleine Zeit sichtbar ist und dann verschwindet. (Jak 4,14)

Über das Gesetz der Freiheit erfahren wir im Johannesevangelium vom Christus höchstpersönlich

[…] ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Daher sagte ich euch, daß ihr in euren Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glauben werdet, daß ich es bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben. Da sprachen sie zu ihm: Wer bist du? […] Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, daß ich es bin, und daß ich nichts von mir selbst tue, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue. Als er dies redete, glaubten viele an ihn.

Jesus sprach nun zu den Juden, welche ihm geglaubt hatten: Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. (Joh 8,23ff)

Drewermann übersetzt übrigens Wahrheit mit Unverborgenheit Gottes.

Also, weil der Teig schon lange fertig gegangen ist und Mars Volta auch schon seit geraumer Zeit zu Ende gespielt haben, komme ich hier mal zu nem Punkt:
Das Gesetz der Freiheit ist, Gott in seiner Unverborgenheit wahrhaft zu erkennen und diese wahrhaftige Erkenntnis festzuhalten, ihr zu Vertrauen. Das ist letztlich das einzige, das uns stützt gegen die Vergänglichkeit dieser Welt. Ich gebe zu, dass das nicht so einfach ist, bedeutet es doch, gegen die Welt zu glauben, in der wir leben. Dabei jedoch gilt sich bewusst zu machen: Diese Welt ist nicht das Leben.

PS:  Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich gestern zu viel Whisky getrunken habe – bei einem Freund, dem ich diesen Whisky zum Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte ein Glas und ich vier oder fünf. Allerdings: Wir haben uns dabei für diesen Gottesdienst verabredet. Ohne den Whisky, der übrigens nicht nur ein schlechtes Gewissen gemacht hat, hätte ich also wahrscheinlich nichts von Jakobus zum Gesetz der Freiheit erfahren.

Kurzes Informationsupdate zur Seite

Nachdem ich jetzt noch Einiges am Seitenlayout und der inhaltlichen Struktur verändert habe, will ich kurz erklären, was ich mir dabei gedacht hab: Die Einteilung von Blog.Buchstaben, Blog.Satz bis Blog.Schrift soll den Grad der Zusammengehörigkeit oder besser Gebundenheit einzelner Texte widerspiegeln. Also während ich bei Blog.Buchstaben einfach drauf los schreibe, sind die Texte bei Blog.Schrift auch als *.pdf runterladbar und somit quasi-gebunden. (Auch wenn hier vielleicht das Problem besteht, dass in dieser Kategorie in Zukunft nicht mehr so viel passieren wird, worauf mich ein Freund aufmerksam gemacht hat, will ich eigentlich doch auch hin und wieder einen Text veröffentlichen, der dahin gehört. – Mal sehen…) Blog.Satz ist die Kategorie für verschiedene Beiträge, die man zu verschiedenen Themen Bündeln kann, bislang einmal zur Hiob-Thematik und dann zum großen Themenbereich vom Verhältnis von Innen und Außen. Weiter Themenbereiche werden hier sicherlich mit der Zeit folgen, auch das wird die Zeit zeigen.

Auch den unteren Bereich hab ich ein wenig angepasst. Unter „Stöbern“ findet sich alles Seiten-Interne wieder, die „Links“ rechts werden noch weiter anwachsen und unter „Nach gedacht“ möchte ich immer mal wieder nen andren Gedanken rein setzen, den ich grade für mitteilenswert halte.

Die Anzahl der angezeigten Artikel auf der Startseite habe ich auf 3 begrenzt, um es übersichtlicher zu halten.

Generell versuche ich, bei den Artikeln dem Wesen von Hypertexten ein wenig gerecht zu werden, indem immer wieder wegführende bzw. vertiefende Links eingebaut sind. (Somit wird der Leser zum Spinner im Netz.)

Generell hab ich gemerkt, dass ich es nicht schaffe, kontinuierlich einmal am Tag was zu veröffentlichen, ich will aber trotzdem versuchen, eine gewisse Regelmäßigkeit ins Schreiben reinzubringen.

Des Krieges Schleim

Schützender Schleim für Soldaten Die Entwickler des stoßdämpfenden Schleim mit der Bezeichnung „D30“ ließen sich von Journalisten mit Spaten traktieren – geschützt durch die „intelligenten Moleküle“ in der wabbeligen Masse. Die versteift sich blitzschnell, wenn sie von einem Objekt mit hoher Geschwindigkeit getroffen wird. „Das ist in etwa so, als ob ein Bodybuilder seine Bauchmuskeln anspannt“, sagte Richard Palmer, einer der Hersteller des Schutzschleims, der britischen „Times“.

Hier zu lesen: www.spiegel-online.de. Zur Entfremdung der Realität durch das Virtuelle hab ich vor kurzem schon geschrieben. Die Frage, die sich bei diesem Artikel und der Vorschau auf die Möglichkeiten der kommenden Kriegsführung ergibt, ist, ob die Realität auch durch die Entwicklung des Realen entfremdet werden kann. Will das nicht weiter ausführen sondern nur kurz anreißen: Über die Technologisierung könnte die Gefahr bestehen, das Wesen des Krieges – es ist nicht die Waffe, die ist nur sein Ausdruck; es ist die Zerstörung – zu vergessen. Die Entfremdung, die durch den Fokus auf die Technologie stattfindet, vernichtet die Distanz zur Zerstörung.

Naja, vielleicht ist das auch nur Polemik, weiß es grad nicht. …

Über das Lernen von Sprache

Interessanter Ausschnitt aus einem Interview mit Daniel Tammet, einem Savant (Inselbegabten):

SPIEGEL ONLINE: Sie lernen extrem schnell. Isländisch haben Sie vor einigen Jahren in nur einer einzigen Woche gelernt – ohne vorher jemals etwas mit der Sprache zu tun gehabt zu haben. Was machen Sie anders als andere Menschen?

Tammet: Die meisten Menschen halten fremde Sprachen für etwas Mysteriöses, Beängstigendes. Sie tun so, als wären Sprachen etwas Künstliches und lernen Listen von Wörtern und Konjugationen, nach dem Motto „ich bin, du bist, er ist“. So kommt man nicht wirklich voran. Ich lerne eine fremde Sprache intuitiv, so ähnlich wie es Kinder tun. Ich versuche, ein Gefühl für die jeweilige Sprache zu entwickeln und Muster zu erkennen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Kleine runde Dinge fangen in Deutsch häufig mit „Kn“ an, Knoblauch, Knopf, Knospe. „Str“ wiederum beschreibt lange, dünne Dinge, Strand, Strumpf, Strahlen. Diese Muster gibt es in allen Sprachen. Wenn man sie erkennt, bekommt man ein Gefühl dafür, wie eine Sprache funktioniert, und kann sie leichter lernen.

SPIEGEL ONLINE: Auf die Idee, Worte nach Formen zu sortieren, wären wir als Muttersprachler allerdings nie gekommen.

Tammet: Heute vielleicht nicht. Aber ich glaube, dass Sie Deutsch, als Sie jung waren, unbewusst genau auf diese Weise gelernt haben. Jeder, der als Kind seine erste Sprache lernt, denkt auf diese Weise. Wenn man später im Leben eine Sprache lernt, ist der Zugang dann allerdings ein anderer. Das Gehirn hat sich verändert. Plötzlich hält man fremde Sprachen für merkwürdig. Aber sie sind es nicht. Jede Sprache ist logisch, weil sie von menschlichen Gehirnen erdacht wurde. Es ist also vollkommen natürlich, nach der Logik einer Sprache zu suchen und diese Logik für das Lernen zu nutzen.

Im Grunde genommen ein Plädoyer für die Verkindlichung des Lernens – und damit gegen den derzeitigen Aufbau von Schule. Vielleicht steckt im System Schule die strukturelle Verkörperung der Arroganz der Erwachsenen (besser: Entwachsenen), sprich: die felsenfeste Überzeugung, zu wissen, was die Welt ausmacht und wie sie funktioniert, und diese kategorische Weisheit jetzt den jüngeren Menschen verbindlich zu vermitteln. (Um das klarzustellen –  Ich bin gar nicht zwingend dafür, Schule in ihrem Wesen zu verändern. Meinetwegen schon, aber mir gehts vor allem darum: Ich möchte, dass dieses Wesen erkannt wird, damit alle Teilnehmenden sich bewusst in und mit diesem System bewegen können.)

Das beste Beispiel für die Arroganz der Wissensbesitzer ist die Sprache. Begriffe bilden das ab, was wir Wirklichkeit nennen. Aber sie tun dies nicht aus sich selbst heraus sondern nur in Kombination mit anderen Begriffen. Erst dadurch entstehen Kategoriegrenzen. Aber es gibt mehr als nur einzelne Begriffe und Grenzen dazwischen; in geäußerter Sprache, also bspw. gesprochen oder geschrieben, spielen die gedanklichen Begriffe mit ihren Grenzen und miteinander – in Form von Silben, Wörtern, Sätzen, Texten… Ok, vielleicht etwas schwere Kost. Man kanns auch reduzieren darauf, was deutlich wird, wenn man verschiedene Sprachen vergleicht: Wörter und deren Bedeutungen sind im Grunde genommen nicht 1:1 zu übersetzen. Das deutsche Wort Wald und das englische Wort wood haben eine große Schnittmenge, aber es gibt Sinn- und Sprachzusammenhänge, in denen die Wörter Unterschiedliches abbilden. Ferdinand De Saussure formuliert dazu als vielgehörter Sprachwissenschaftler die Arbitrarität, das meint die Unmotiviertheit in der Verbindung zwischen Wort und Bedeutung, einfach gesagt (für ihn gibts bei einem Zeichen, bei ihm das Wort als kleinste Einheit, eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite, die ich hier vereinfacht mit Wort und Bedeutung übersetze; wer sichs noch krasser geben will: Freges Zeichenverständnis und seine Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung). Also um das Geplapper auf einen Punkt zu führen: Sprache ist nicht eindeutig, ihre Logik ergibt sich aus ihren Zusammenhängen und ihren Sinn erfährt sie in jeder benutzten sprachlichen Situation. Die Übersetzung von Texten ist deshalb so schwer und eine hohe Kunst, weil eben nicht einzelne Wörter wie in einem Lexikon übersetzt werden müssen, sondern weil zu den Wörtern die inneren sprachlichen Zusammenhänge, die Zusammehänge zwischen Sprache und Gebrauch und die Zusammenhänge zwischen Gebrauch und Situation übersetzt werden müssen. Es muss die sprachliche Kultur, ja die Kultur selbst übersetzt werden.

Das alles bedeutet nun nicht, dass man eine Sprache nicht in der Schule lernen könnte, es bedeutet viel eher, dass man eine spezielle, steife, technokratische Form dieser Sprache lernt – vorausgesetzt es handelt sich um den typischen Sprachenunterricht, in dem man im Klassenraum sprachliche Beispiele behandelt.

Für mich als Haupt- und Realschullehrer an einer großen Gesamtschule mit dreigliedrigem Schulsystem bedeutet es konkret, dass man Sprache nicht unabhängig von der Kultur, also dem tatsächlichen Benutzen von Sprache lernen kann. Ihre innere Logik und ihre äußeren Zusammenhänge lassen sich nicht wahrhaft in der verfremdeten Lernsituation des Klassenzimmers lernen. Was aber geht, ist, den SchülerInnen neben der technokratischen Sprache ein Bewusstsein mitzugeben, dass es keinen fixen sprachlichen Zustand gibt, dass Sprache gelebt ist und sich also verändert – sei es in Rap-Texten oder der Realisierung von Chatausdrücken. Der kulturelle Raum verändert ihren Gebrauch und also auch die Sprache selbst. Dieses Bewusstsein muss man mit in die Lernsituation tragen, damit Sprachlernen nicht als Fremdes, Aufgezwungenes von Kindern wahrgenommen wird sondern als Teil ihrer und unserer Kultur. (Um dieses Prinzip zu erkennen muss man übrigens kein Savant sein…)

Der Prinz aus Simbabwe

Als ich vorhin diesen Artikel von Johannes Dietrich auf FR-Online (vgl. spiegel.de) las, musste ich sofort an einen der besten Filme aller Zeiten denken: Coming to America. (Mir gefallen die Szenen im Friseurladen besonders darin.) Eddi Murphy geht darin in der deutschen Version als „Der Prinz aus Zamunda“ auf Reisen in die USA/New York, um seine Frau fürs Leben zu finden. Die gesamte Geschichte ist vielleicht am besten als modernes Märchen zu beschreiben. Viele bedeutungsschwere Allegorien sind dabei untergebracht (bspw. heißt dieses Haarmittel „SoulGlo“), die vor allem thematisieren, dass es nicht auf die äußere Pompösität ankommt, sondern irgendwas tief im Innern eines Menschen sein muss, das zu finden es lohnt.
Jedenfalls ist das Königreich in Zamunda angelegt auf die ausufernden Herrschaftsverhältnisse, wie sie im europäischen Absolutismus normal waren. (Das wird übrigens herrlich auf die Schippe genommen, als zu Beginn die Königsfamilie am Bankett „frühstückt“.) Während im Film niemand ein Problem mit dem Herrscher von Zamunda zu haben scheint und dem Prinzen sogar im Madison Square Garden ein Untertan begegnet, der vor Ehrfurcht fast in Ohnmacht fällt (allerdings wird im ganzen Film so gut wie nichts über Zamundas Bevölkerung gesagt), scheint die Situation im realen Simbabwe etwas anders gelagert zu sein: Dem „Präsidenten“ fehlt das nötige Geld, um seine Untertanen in den Genuss eines wahrhaft absoluten Lebens kommen zu lassen. Glücklicherweise gilt das nicht für Mugabe selbst:

Man wird es den Verantwortlichen verzeihen müssen. Eine Viertel Million US-Dollar in einem Land aufzutreiben, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung vom Hungertod bedroht ist und sich die Städte kein Chlor zu Reinigung des Trinkwassers mehr leisten können, ist kein Pappenstiel. Deshalb brauchte die simbabwische Zanu-PF-Partei auch etwas länger, um das Geld für die Geburtstagsparty Präsidenten Robert Mugabe aufzubringen.

Der war bereits am 21. Februar 85 Jahre alt geworden, doch erst als ein berüchtigter Geschäftsmann und Vetter des Jubilars noch schnell 140 000 US-Dollar in den Hut warf, konnte mit der Bestellung begonnen werden: 2000 Flaschen Champagner, 8000 Hummer, 100 Kilogramm Krabben, 4000 Portionen Kaviar, 3000 Enten sowie ein Geburtstagkuchen, der allein 85 Kilo wog. So konnte mit einwöchiger Verspätung am Samstag zum „glücklichsten Tag der simbabwischen Nation“ (die Organisatoren) steigen, 5000 Parteifunktionäre waren dazu geladen.

In Coming to America gibts ein Happy Ending in Zamunda: Der Prinz heiratet die wahrhaft innere (und äußere) Schöne, die ihrerseits nicht auf den Seelenglanz-Typen reinfällt. – Wie es in Simbabwe ausgeht, ist trotz jüngester Zuversichtsmeldungen ungewiss. An dem Leid der Bevölkerung Simbabwes jedenfalls wird sich die Zukunft dieses Landes und seines Königs entscheiden.

Die Verantwortung tragen die Gene…

Gen für Fettleibigkeit identifziert:

Mehr als 30 Prozent der deutschen Bevölkerung haben Übergewicht – und wir werden imer dicker. Deutsche Wissenschaftler haben jetzt nachgewiesen, welche Bedeutung ein 2006 entdecktes Gen bei der Entstehung des Übergewichts hat.

Verdächtig nur – und die Einleitung dieses Artikels bringt es ja auf den Punkt –,  dass es Deutsche Wissenschaftler sind, die der deutschen Bevölkerung das Gewissen erleichtern und die Lasten unseres Wohlstands, nämlich den individuellen Umgang mit gesellschaftlicher Dekadenz, von uns nehmen und die Verantwortung an unser Erbmaterial abgeben. Damit wär dann übrigens auch ich fein raus. Es lebe die Wissenschaft!

Damit bleibt dann nur noch zu sagen: Mach den Bart-Man!

Die Kompossibilität des Konfusen

Hab grad nen Artikel auf Spiegel-Online geleesen, in dem Oswald Egger dem Wesen des Unvorstellbaren nachgeht. Ist aus oder zu seinem Buch Diskrete Stetigkeit. Poesie und Mathematik (erschienen 2008 beim nach Berlin ziehenden Suhrkamp-Verlag).
Ich finde solche (sprach-)philosophischen Gedanken ja immer ganz spannend, aber ich raff einfach nicht, warum derartige Texte oft in einer Sphäre eigener Begrifflichkeiten schweben, die höher liegt als jeder andere wissenschaftliche Elfenbeinturm. – Wer soll das denn verstehen:

Die Kompossibilität des Konfusen und auch des Konformen, und die Interimsbilder inzwischen: in Leibniz‘ wechselständiger Fulguration von winzigen, sofort wieder zerfallenden, geborgten Bedeutungen, die wie Augenblicksgötter koexistierender Zustände zwischen Rede und Realität oszillierten

Meine Übersetzung (für Hauptschulphilosophen):
„Wie wir Zusammenhänge herstellen können im Unordentlichen und auch im bereits von anderen Geordneten sowie die Frage, wie wir durch Sprache zu Momenten der Erkenntnis (= Augenblicksgötter koexistierener Zustände zwischen Rede und Realität) gelangen“

Und das ist ne Zwischenüberschrift… Ich frag noch mal: Wer soll das raffen? Vielleicht ist das ja auch ein Philosophenwitz: Das ist deren Geheimsprache und der Inhalt dieses Satzes heißt im Grunde genommen: „Wer das liest, ist doof.“ …

Im Grunde genommen will Egger – so vermute ich – einfach sagen, dass es eine interne Logik in der Sprache gibt, wie sie sich selbst zusammenhält und wie sie mit der Realität in Kontakt kommt bzw. ob sie überhaupt die Realität berührt. Vielleicht will er ja auch was ganz anderes sagen. Er hat hier halt Konfusion komponiert, zumindest in mir.

Präzision, die eitel ist, führt zur geordneten Konfusion. Wer wahrhaft verstehen will, muss das Wesen der Dinge reduzieren, herunterbrechen auf die Wahrheit. Eggers Essay ist große sprach-mathematische Kunst, wer weiß. Vielleicht aber auch nicht. Ich kanns nicht beurteilen. – Und dass ich es nicht beurteilen kann, ist mein Vorwurf an ihn.

Aber vielleicht bin ich auch einfach unfair, weil ich die Dinge mit meinem kindlichen Idealismus sehe, der auf dem festen Glauben beruht, dass die Wahrheit nichts Exklusives ist.

PS: Ich mag das Roboterbild, das hat so was Romantisches…

Beidhändige Doppelbackpfeifen

Ich wollte zwar eigentlich schon ins Bett, aber dadrauf muss ich dann doch noch hinweisen: “Ich kann fliegen”

Bemerkenswert 1:

Nach Ihrer Kopfnuss stand der Gegner sofort wieder auf.

Und deshalb können auch Kinder darüber herzhaft lachen. Ich habe ihnen nie Angst verbreitet; es gab nie Tote, es spritzte kein Blut.

Bemerkenswert 2:

Der Schriftsteller Umberto Eco sieht das, wie viele Ihrer Landsleute, anders. Eco wirft Berlusconi unter anderem vor, seine eigenen, unternehmerischen Interessen über die des Landes zu stellen?

Ich kenne Eco nicht persönlich. Aber er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Europas, vielleicht sogar weltweit. Eco ist für mich ein kultivierter, ehrenwerter Mann.

Jetzt klingen Sie wie ein Pate.

Lassen Sie es mich so sagen: Man kann meine Kultur mit seiner nicht vergleichen.

Fazit: Was für einen leicht erschütterbaren Heldenglauben hätte ich, wenn etwas so Gewöhnliches wie die Wahrheit mir meine Verehrung für Bud Spencer nehmen könnte?

Kurze Gedanken zu Autismus und dem Netz

ich will kein inmich mehr sein ich habe augen und kann sehen deshalb habe ich schreckliche angst gehabt ich habe deshalb nichts mehr sagen wollen ich hatte angst vor ende des weges und der gemenschseinheit zu ende
7.3.91 (Birger Sellin)

Diese Zeilen sind von Birger Sellin, einem Autisten, der mit Hilfe Computergestützten Kommunikation allmählich seinem Inneren ein Äußeres geben konnte. Wirklich lesenswert, sein Buch. Ich hab mich beim Leesen stark an ein Gedicht von Rainer Werner Faßbinder erinnert gefühlt:

Nietzsche
Eine Sprache aus Trauer
aus Licht eine Mauer
Gedanken aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Lebendige Leichen
voll Kraft und Gewalt
Von Gott keine Zeichen
so schön von Gestalt

Eine Sehnsucht aus Tränen
und Perlen von Zähnen
Gesichter Aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Wird Schönheit versteigert
Nach Maßen gemessen
wird Freiheit verweigert
ganz einfach vergessen
Eine Schale aus Schmerzen
vom Schmerz brechen Herzen
Muskeln aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Container an Ketten
und die Haut die dich quält
kein Gott dich zu retten
vor dem Feuer das fehlt

Eine Sonne aus Eisen
mit Qual lächelnd reisen
Götter aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Ok, ich kannte es nicht, bevor ich nicht „Eine eigene Geschichte“ auf der Blumfeld-Platte „L’Etat Et Moi“ gehört hatte, in dem es heißt:

Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und Stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr

Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem er sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer

Auf jeden Fall wirkt Sellins Sprache vom selben Gefühl berührt wie die Sprache dieser Lyrik. Und das Thema Autismus lässt mich auch seit einer ganzen Weile nicht mehr los. In Kierkegaards „Schattenrisse“ in Entweder–Oder findet sich auch eine Passage über die reflektierte Trauer, die in all ihren Facetten ziemlich genau ein autistisches Gefühl beschreibt, ohne es zu wollen:

Wie der Kranke in seinem Schmerz sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite wirft, so ist auch die reflektierte Trauer hin und her geworfen, um ihren Gegenstand und ihren Ausdruck zu finden. Wenn die Trauer Ruhe hat, so wird das Innere der Trauer auch allmählich sich nach außen durcharbeiten, im Äußeren sichtbar und somit Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Wenn die Trauer Muße und Ruhe in sich selber hat, so setzt die Bewegung von innen nach außen ein, die reflektierte Trauer bewegt sich nach innen, gleich dem Blut, das aus der Oberfläche flieht und dies nur durch hineilende Blässe ahnen lässt. Die reflektierte Trauer bringt keine wesentliche Veränderung im Äußeren mit sich; selbst im ersten Augenblick der Trauer hastet sie schon nach innen, und nur ein sorgfältigerer Beobachter ahnt ihr Verschwinden; später wacht sie peinlich darüber, dass das Äußere so unauffällig wie möglich sei.
Indem sie nun solchermaßen sich nach innen wendet, findet sie schließlich ein Gehege, ein Innerstes, wo sie meint bleiben zu können, und nun beginnt sie ihre einförmige Bewegung. Wie das Pendel der Uhr, so schwingt sie hin und her und kann keine Ruhe finden. Sie fängt immer wieder von vorne an und überlegt wieder, verhört die Zeugen, vergleicht und überprüft die verschiedenen Aussagen, was sie schon hundertmal getan hat, aber nie wird sie fertig. Das Einförmige bekommt mit der Zeit etwas Betäubendes. Wie der eintönige Fall der Dachtraufen, wie das eintönige Schnurren des Spinnrades, wie das monotone Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch in einer Etage über uns mit gemessenen Schritten hin und her geht, betäubend wirken, so findet die reflektierte Trauer schließlich Linderung in dieser Bewegung, die als eine illusorische Motion ihr zur Notwendigkeit wird. Endlich ergibt sich ein gewisses Gleichgewicht; das Bedürfnis, die Trauer zum Durchbruch kommen zu lassen, sofern es sich gelegentlich geäußert haben mag, hört auf, das Äußere ist still und ruhig, und tief innen in ihrem kleinen Winkel lebt die Trauer gleich einem wohl verwahrten Gefangenen in einem unteridischen Kerker, dort lebt sie ein Jahr ums andere dahin in ihrer einförmigen Bewegung, wandert auf und ab in ihrem Verschlag, nimmer müde, den langen oder kurzen Weg der Trauer zurückzulegen.
Der Grund dafür, dass es zu einer reflektierten Trauer kommt, kann teils in der subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, teils in dem objektiven Leid oder dem Anlass zur Trauer. Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jede Trauer in reflektierte Trauer verwandeln, seine individuelle Struktur und Organisation macht es ihm unmöglich, sich die Trauer ohne weiteres zu assimilieren. Dies ist indessen eine Krankhaftigkeit, die nicht sonderlich zu interessieren vermag, da auf diese Weise jede Zufälligkeit eine Metamorphose erfahren kann, durch die sie zu einer reflektierten Trauer wird. Etwas anderes ist es, wenn das objektive Leid oder der Anlass der Trauer im Individuum selbst die Reflexion erzeugt, welche die Trauer zu einer reflektierten Trauer macht. Dies ist überall da der Fall, wo das objektive Leid in sich nicht fertig ist, wo es einen Zweifel zurücklässt, wie dieser im übrigen auch immer beschaffen sein möge. Hier eröffnet sich dem Denken alsbald eine große Mannigfaltigkeit, um so größer, je nachdem einer viel erlebt und erfahren oder er Neigung hat, seinen Scharfsinn mit derartigen Experimenten zu beschäftigen. Es ist indessen keineswegs meine Absicht, die ganze Mannigfaltigkeit durchzuarbeiten, eine einzige Seite nur möchte ich ans Licht ziehen, so wie sie sich meiner Beobachtung gezeigt hat. Wenn der Anlass der Trauer ein Betrug ist, so ist das objektive Leid so beschaffen, dass es im Individuum die refletkierte Trauer erzeugt. Ob ein Betrug wirklich ein Betrug ist, lässt sich oft äußerst schwer feststellen, und doch hängt alles davon ab; solange es zweifelhaft ist, solange findet die Trauer keine Ruhe, sondern muss fortfahren in der Reflexion auf und ab zu wandern. Wenn ferner dieser Betrug nichts Äußerliches betrifft, sondern das ganze innere Leben eines Menschen, seines Lebens innersten Kern, so wird die Wahrscheinlichkeit für das Fortdauern der reflektierten Trauer immer größer.

Ich gebe zu, dass es mittlerweile keine „Kurzen“ Gedanken mehr sind. (Obwohl ich bislang eigentlich nur zitiert hab…) Und worauf ich eigentlich hinaus wollte, hab ich bislang noch nicht einmal erwähnt:
Ich hab neulich irgendwo mal was von einer Studie geleesen, die Hinweise darauf gegeben haben soll, dass mit der steigenden Computer- und Internetnutzung auch autistische Verhaltensweisen häufiger vorkämen. Man kann bei Autismus nicht wirklich von einer Krankheit sprechen. Um so interessanter, dass ich mich in so manchen autistischen Verhaltensweisen wiederfinde – nicht dass ich mich als Autist sehe oder auch nur behaupten würde, ich hätte sowas wie das Asperger-Syndrom. Nein, es ist vielmehr, dass ich glaube, dass prinzipiell jeder Mensch jedes Verhalten in unterschiedlich starker Ausprägung bei sich vorfinden kann, wenn man nur lange genug in sich sucht. Und so dachte ich auch bei mir, dass ich – seit ich mich um diese Internetseite bemühe – irgendwie im Netz mehr aus mir raus gehe. Obwohl ich hier die ganzen Sachen in die Welt hinausposaune, bring ich manchmal nicht die einfachsten Worte meinem persönlichen Gegenüber über die Lippen. (Vielleicht bin ich auch manchmal einfach „behindert“ wie meine Hauptschüler sagen würden…) Ich glaube, dass das im Wesentlichen daran liegt, dass ich, obwohl ich weiß, dass die Dinge hier vielleicht von ein paar Leuten geleesen werden, Leuten, die mich auch persönlich kennen, niemandem ins Angesicht sehen muss, während ich rede.
Autisten meiden in der Regel direkten Blickkontakt. Für manch einen wäre es eine Strafe, ihn zu zwingen, einem in die Augen zu sehen. Das Internet hat den Vorteil der absoluten Anonymität – nicht so sehr des eigenen Selbst, sondern vielmehr des Gegenübers. Der geheimnisvolle Leser ist glaube ich der entscheidende Punkt, warum es einem in diesen moderneren Kommunikationskanälen leichter fällt, sein Inneres zu entäußern. An anderer Stelle tut man das nur, wenn man sein Gegenüber ausgesprochen gut kennt und ihm vertraut.

ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge
14.3.91 (Birger Sellin)

Examensarbeit zu Bangladesch

Habe mir meine Examensarbeit beim Hochladen noch mal angeschaut und bin gar nicht so zufrieden damit. Irgendwie ist alles mit Materialien vollgeknallt, von denen die eine Hälfte irrelevant und die andere Hälfte redundant ist. Naja, die erbrachte Leistung war wahrscheinlich sowieso eher, die Kapitel 4.2, 5 und 6 in den letzten fünf Tagen vor Abgabe zu schreiben (immerhin fast 30 Seiten)… – Wie immer halt… – das Ergebnis absoluter Unstrukturiertheit und konsequenter Ignoranz der noch bleibenden Arbeitszeit. Mir waren damals, als ich im Herbst 2007 etwa eine Stunde vor Abgabetermin schlaftrunken und kaffeegeschädigt (~12 Liter in 3 Tagen) im Copyshop stand und den ersten Ausdruck durchsah, dann auch egal, dass mein Professor die ein oder andere leuchtend grün markierte Stelle zu sehen bekommen würde, die eigentlich noch von mir zu überarbeiten gewesen wäre… Mein Fazit zur Arbeit: Beeindruckende Wissenschaftspolemik gepaart mit bombastisch irrelevanter Materialsammlung.

Zyklonfluten in Bangladesch

bangladesch.pdf

Zyklonfluten in Bangladesch – Leben in der hazard area

1 Einleitung

Water is a source of life and a natural resource that sustains our environments and supports livelihoods – but it is also a source of risk and vulnerability. (UNDP.ORG3)

Mit der Beschreibung eines sich verändernden globalen Zustandes trifft der Human Development Report 2006 der Vereinten Nationen genau die Situation, die das bevöl-kerungsreiche Bangladesch dominiert. Seien es die im Sommer auftretenden Über-schwemmungen oder der im Winter ausbleibende Regen – Wasser bestimmt das Land wie kein anderes Element. Dabei sind die Bangladeschis auf jährlich wiederkeh-rende, maßvolle Überflutungen angewiesen, um ertragreiche Landwirtschaft zu betreiben. Allerdings können die Fluten zerstörerische Dimensionen annehmen, die nicht nur genau dem entgegenwirken sondern auch unmittelbar das Leben der Men-schen bedrohen. Das ist besonders der Fall, wenn das am nördlichen Golf von Benga-len gelegene Bangladesch von einem Zyklon getroffen wird. Dann sind vor allem die küstennahen Regionen des reliefarmen Landes von einer Flutwelle betroffen, die in ihrem Ausmaß vielen Menschen den Tod zu bringen vermag. Dabei treffen Zyklone immer wieder auf das Land und stellten es in der Vergangenheit vor wiederkehrende Probleme, so insbesondere 1970 und 1991. Die Zerstörung ganzer Landstriche be-deutet den Entzug der Lebensgrundlage der betroffenen Bevölkerung. Diese Arbeit verfolgt deshalb das Ziel, einen Blick zu werfen auf die Situation der Betroffenen, den Umgang mit Zyklonfluten sowie die Perspektiven für das Land. Dazu soll schrittweise vorgegangen werden. Um das Bedrohungspotential eines Zyklons zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich mit dem natürlichen Phänomen zu be-schäftigen. Dies soll in Kapitel 2 Tropische Wirbelstürme geschehen. Im darauffolgen-den Schritt ist der Raum Bangladesch der Betrachtungsgegenstand. Die Bedeutung von allgemeinen Überschwemmungen für das Land soll hierbei genauer untersucht werden, um Zyklonfluten in eine konkrete Relation setzen zu können. Deswegen er-folgt nach Kapitel 3 Extremraum Bangladesch die Untersuchung zweier Zyklonereig-nisse. In diesem Schritt – Kapitel 4 Zyklone in Bangladesch: 1970 und 1991 – sollen sowohl natürliche Aspekte vor allem aber der Umgang mit den beiden Katastrophen verglichen werden. In Kapitel 5 Perspektiven für Bangladesch sind zwei unterschiedli-che Betrachtungsgegenstände die Grundlage für weiterführende Überlegungen: Zu-nächst soll die Nachhaltigkeit im Umgang mit Zyklonfluten untersucht werden, danach stehen die Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch im Blickpunkt. Beides ist Ausgangspunkt für ein Fazit, das in Kapitel 6 Zusammenfassung und Ausblick ge-zogen werden soll. Diesen Ausführungen liegen Hypothesen zu Grunde, die als Leitfaden durch die Ar-beit führen sollen. Eine grundsätzliche Annahme ist, dass Zyklonfluten bedrohliche Ausmaße annehmen und deren Folgen in Bangladesch besonders verheerend sein können. Eine weitere These ist, dass das wirtschaftlich arme Land bei Zyklonkatastro-phen auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die Annahme, dass sich der Umgang mit Ka-tastrophen von 1970 bis 1991 deutlich verbessert hat, liegt insbesondere Kapitel 4 zu Grunde. Der darauffolgende Schritt, Kapitel 5.1, basiert auf der Hypothese, dass nach 1991 vermehrt nachhaltige Hilfskonzeptionen vorzufinden sind. Die Untersuchung zu den prognostizierten Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch soll die Ver-mutung, dass das Land aller Voraussicht nach unter den Folgen der globalen Erwär-mung besonders zu leiden hat, belegen oder widerlegen. Inwieweit die hier aufgestell-ten Hypothesen zutreffen, soll in Kapitel 6 reflektiert werden. Dies wird notwendig sein, um den Blick zu einer langfristigen Perspektive zu öffnen.

6 Zusammenfassung und Ausblick

Die eingangs formulierten Hypothesen lassen bei abschließender Betrachtung nur eine differenzierte Bewertung zu. So wurde sowohl in Kapitel 2 als auch in Kapitel 4 dargelegt, dass tropische Wirbelstürme ein großes Gefahrenpotential besitzen, das gerade in Bangladesch verheerende Ausmaße entfalten kann. Allein durch zwei Zyk-lonkatastrophen wurden 1970 und 1991 mehr als 440.000 Menschen getötet. Zwar haben tatsächlich innerhalb der 21 Jahre Verbesserungen im so genannten Katastro-phenmanagement stattgefunden. Dies hing im Wesentlichen mit einer verbesserten Koordinierungs- un Kommunikationsfähigkeit der Hilfsmaßnahmen zusammen. Ande-re Mechanismen wie das Vorhersage- und Warnsystem wurden allerdings an den entscheidenden Punkten nicht verbessert. Doch gerade hier zeigen verbesserte Vor-hersagemodelle sowie lokale und nachhaltige Vorsorgemaßnahmen Möglichkeiten auf, wie eine Verbesserung der Warnstruktur stattfinden kann, welche die Perspektive der betroffenen, überwiegend ländlichen Bevölkerung der Küstenregionen Bangla-deschs in den Fokus rückt. Ein pauschales Urteil ist dabei aber nicht möglich. In ver-schiedenen Maßnahmen nach dem Zyklon 1991 verfolgte die Regierung Bangla-deschs überwiegend einen Top-Down-Ansatz – mit Unterstützung der UN. Andere, langfristig wirksamere Wege als die alleinige Fokussierung bspw. auf den Ausbau der Cyclone Shelters wurden u.a. mit dem CBDPP aufgezeigt. Nachhaltige Katastrophen-hilfe kann nur funktionieren, wenn die Perspektive der betroffenen Menschen einge-nommen und berücksichtigt wird. Das bedeutet, dass sich Katastrophenhilfe, will sie langfristig wirksame Konzeptionen verfolgen, auch gleichzeitig als Entwicklungshilfe begreifen muss. So muss gerade im Angesicht einer sich in Zukunft zuspitzenden Bevölkerungs- und damit auch Ernährungsproblematik Rücksicht auf die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung Bangladeschs genommen werden. So wäre die Wieder-aufforstung der Mangrovenbestände als natürliche Schutzfunktion vor Zyklonfluten zwar wünschenswert. Passieren darf dies aber nur, wenn dafür bspw. kein Reisfeld ersatzlos aufgegeben werden muss. Besonders in Anbetracht der unter dem Stichwort Klimawandel diskutierten, prognostizierten Veränderungen für das Land ist dies ein heikles Thema. Ein steigendes Bevölkerungswachstum in Bangladesch bei gleichzei-tig geringer werdender Nutzfläche birgt längerfristig vor allem eine sozioökonomische Brisanz in sich. Deswegen muss nachhaltig angelegte Entwicklungs- und Katastro-phenhilfe besonders die durch den Klimawandel bedingten Veränderungen berück-sichtigen. Es ist wichtig, dass bei aller wachsender Bedrohungslage der Situation ge-genüber nicht resigniert wird. Schließlich haben die Untersuchungen hier auch aufge-zeigt, dass Hilfsmaßnahmen im Zusammenhang mit den Zyklonkatastrophen von den unterschiedlichsten Seiten kamen. Etliche NGOs – aus den unterschiedlichsten Län-dern – zeigen in Bangladesch ein Engagement. Auch die UN scheinen sich der Situa-tion bewusst zu sein – zumindest legen dies das Engagement nach dem Zyklon 1991 und die intensiven Untersuchungen zu den regionalen Auswirkungen des Klimawan-dels nahe. Alle Untersuchungen in dieser Arbeit haben gezeigt, dass Bangladesch von Wasser bestimmt wird, wie von keinem anderen Element. Dabei wurden bspw. die großräumi-gen, regelmäßigen Überschwemmungen im Landesinneren nur nebensächlich be-handelt. Doch gerade hier tut sich eine Perspektive auf, die klar macht, dass trotz aller Probleme nicht die natürlichen Auswirkungen dieser Resource entscheidend sind sondern der Blick darauf aus der Perspektive der Betroffenen. So steht einem ein-gangs dem Human Development Report entnommenen Ausspruch über die Ambiva-lenz der Resource Wasser abschließend ein Sprichwort Bangladeschs gegenüber:

Wasser ist die Mutter unseres Landes. Es bringt Leben, nicht den Tod. (zit. n. MA-TEJKA 2007, S. 162).

Wenn die Pflicht ruft

Habe grade beim Abendessen ein wenig fern gesehen und bin bei der MTV-Sendung AccesAllArea für ein paar Minuten hängen geblieben, die unter dem Titel Digital Heros lief. Gerade, als ich schaute, ging es um Kriegsspiele generell und Call of Duty 4 im Speziellen. Genauer gesagt ging es um diesen Ausschnitt des Spiels:

Ist die Szene, in der das Wort ‚pieces‘ fällt, wohl der sprachlich krasseste Kommentar der Off-Stimme, so ist das gesamte Spielgeschehen (zumindest dieses Ausschnitts) um so beunruhigender. Wohl vor allem beunruhigend, wenn man das Spiel nur sieht und nicht selbst spielt. – Nicht weil man durch das Spielen die Mechanismen durchschaut, das Spielprinzip in den Vordergrund tritt und die Darstellung in den Hintergrund rückt (nicht verschwindet), sondern gerade umgekehrt: weil man eben durch das Nichteingebundensein eine Distanz entwicklen kann, die eine Beurteilung ermöglicht, die sich allein auf die ‚transportierten‘ Bilder, Geräusche und Geschichten beschränkt.

Die erschreckend realistische Darstellung ruft bei Betrachtung – zumindest bei mir – ein gewisses Ekelgefühl hervor. (Das liegt vor allem an der Erkenntnis, dass die Akteure Krieg sehr technisch betrachten.) Genau dieses Gefühl hatte ich übrigens auch, als ich vor einigen Jahren auf Phönix eine Reportage zum Irakkrieg gesehen hatte. Dort war ein Ausschnitt zu sehen, in dem man im grün getränkten Bildschirm weiße Körper-Silhouetten zu sehen waren, die scheinbar entspannt bei etwas standen, das aussah wie ein stellenweise weiß-illuminierter Geländetruck. Im Off waren Stimmen zu hören, die sich auf Englisch über Funk unterhielten. Die Intonation der Stimmen hätte auch auf Ornithologen schließen lassen können, hätte nicht plötzlich das zerberstende Weiß der Silhoutten den Zusammenhang hergestellt.

Der darstellende Realismus von Krieg gewinnt in Kombination mit dem spielerischen Aspekt allerdings noch eine ganz andere Qualität. Mir geht es dabei nicht so sehr um die Debatte um so genannte „Killerspiele“ (vgl. heise.de). Das problematische sehe ich hier in der Virtualisierung der Realität, nicht umgekehrt. Dadurch dass die Mechanismen des Spiels (also die reaktionslastige Bedienung der Eingabegeräte bspw. um weiße Punkte möglichst genau anzuvisieren) in der Wahrnehmung des Spielers überwiegen, findet eine Entfremdung der Realität statt. Oder einfacher gesagt: Das Ekelgefühl kommt nicht beim Spielen sondern nur beim Betrachten (=distanzieren).

Um mich, Pharisäer, zu entlarven, muss ich ehrlicherweise auch eingestehen, dass ich den ersten Teil der Call of Duty-Reihe immer mal wieder mit Freunden im LAN gespielt habe. Hat auch Spaß gemacht und die einzig wirklich ausgeübte Wut richtete sich gegen die Latenzen verursachenden technischen Geräte der realen Inneneinrichtung. Dennoch:  Die Grenzen zwischen virtuell und real verschwimmen, wenn die einzige Unterscheidungsmöglichkeit die Quelle wird, woher wir die Bilder empfangen. Und dies ist mir bei dem gezeigten Ausschnitt auf MTV und der Erinnerung an Bilder des Irak-Kriegs irgendwie klar geworden.

Transformation in China

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Transformation in China

Auszüge

Es gibt viele Ansichten, die die Entwicklung und die Zukunft Chinas – meist mit stärkerem Blick auf die Ökonomie – unterschiedlich bewerten. Im Folgenden soll dies in drei Zitaten widergespiegelt werden:

Die Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas werden überwiegend positiv eingeschätzt, vorausgesetzt die politische und soziale Stabilität bleibt bestehen. Kurz- und mittelfristig kann sich besonders die hohe Arbeitslosigkeit gefährdend auswirken. […] Zu den langfristigen Herausforderungen für die chinesische Entwicklung zählen Engpässe in der Versorgung mit Energie und Rohstoffen. Das chinesische Wachstum basiert bisher auf einer recht ineffizienten Nutzung von Energie, Rohstoffen sowie Investitionsmitteln. Da zunehmend deutlich wird, dass hieraus hohe Kosten für Energie, Umwelt und Gesundheit entstehen, bemüht sich die chinesische Regierung um Strategien für ein nachhaltigeres Wachstum. (FISCHER 2006)

Das Gutachten [Bertelsmann Transformation Index 2003: Volksrepublik China] macht Vorbehalte gegenüber euphorischen Einschätzungen der ökonomischen Transformationserfolge in der VR China geltend. Es ist deutlich geworden, dass gravierende strukturelle Probleme und Risiken im ökonomischen Bereich fortbestehen. Die Lösung mittel- bis langfristiger Schlüsselaufgaben im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich muss als offen und unsicher gelten. Dies gilt vor allem auch für die Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung und der Weiterentwicklung des Rechtsstaates. […] Um eine Zuspitzung sozialer Spannungen zu vermeiden, eine ausreichende Zahl neuer Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und die Herrschaftslegitimation der KPCh zu wahren, ist ein dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum unabdingbar. Dieses „Hochwachstum“ muss unter zunehmend schwierigeren Bedingungen erreicht werden. Deshalb wird der Transformationsprozess Chinas auf längere Sicht unvollendet und ungewiss bleiben. (BERTELSMANN.DE, S. 18)

[Man kann] davon ausgehen, dass die Wirtschaft der VR China ihren Wachstumskurs fortsetzen wird. Damit wird die autoritäre Alleinherrschaft der KP weiter bestehen. Da der KP-Staat in seiner Funktion einerseits für beste Bedingungen im Hinblick auf die Rentabilität des Kapitals sorgt und andererseits den nicht zu bewältigenden sozialen Problemen mit repressiven Maßnahmen begegnet, ist er als Wachstumsgarant unverzichtbar. Auch der Höhenflug euphorischer Chinabetrachtungen wird dabei weitergehen. Unerträglich ist dabei, dass die China-Euphorie im Westen die politisch-intellektuelle Wachsamkeit für die Werte von Menschenrechten und Demokratie drastisch vermindert. […] Noch unerträglicher ist die in der westlichen Geschäftswelt verbreitete Bewunderung und Begeisterung für die VR China, in der es weder Reformblockaden durch „Ewiggestrige“ noch die Behinderungen notwendiger „Innovationen und Reformen“ durch unendliche Debatten gibt. Nicht selten wird das demokratische und sozialstaatliche Fundament in so genannten Standortdebatten z.B. hierzulande als wachstumshindernde Altlast stigmatisiert […]. (CHO 2005, S. 290 f.)

Literatur

– CHO, HYEKYUNG: Chinas langer Marsch in den Kapitalismus. Westfälisches Dampfboot: Münster 2005.

– DRECHSLER, HANNO / HILLIGEN, WOLFGANG / NEUMANN, FRANZ (Hrsg.): Gesellschaft und Staat: Lexikon der Politik. 10. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Franz Vahlen Verlag: München 2003.

– FISCHER, DORIS: Chinas sozialistische Marktwirtschaft. In: Informationen zur politischen Bildung (Heft 289). Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2006.
Onlinequelle: „http://www.bpb.de/publikationen/NAKFSP,0,Chinas_sozialistische_Marktwirtschaft.html“; letzter Aufruf: 20.01.08.

– FISCHER, DORIS und LACKNER, MICHAEL (Hrsg.): Länderbericht China: Geschichte – Politik, Wirtschaft – Gesellschaft; 3. vollständig überarbeitete Auflage. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2007.

– HERRMANN-PILLATH, CARSTEN: Marktwirtschaft in China: Geschichte – Strukturen – Transformation. Leske und Budrich: Opladen 1995.

– MENZEL, ULRICH: Theorie und Praxis des chinesischen Entwicklungsmodells. Westdeutscher Verlag: Opladen 1978.

– NOHLEN, DIETER und SCHULTZE, RAINER-OLAF (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe – Band 2. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2005. C. H. Beck-Verlag: München 2002.

– NOHLEN, DIETER / SCHULTZE, RAINER-OLAF / SCHÜTTEMEYER, SUZANNE S. (Hrsg.): Lexikon der Politik: Band 7 – Politische Begriffe. C. H. Beck: München 1998.

– RITTERSHOFER, CHRISTIAN: Lexikon Politik, Staat, Gesellschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2007.

– SCHÄFER, DIRK: China im Klimawandel? Befunde, Ursachen und mögliche Folgen. In: GLASER, RÜDIGER und KREMB, KLAUS (Hrsg.): Asien; S. 195-208. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2007.

– ZANDER, ERNST und RICHTER, STEFFEN: China am Wendepunkt zur Marktwirtschaft? I. H. Sauer-Verlag: Heidelberg 1992.

– BERTELSMANN.DE: Bertelsmann Transformation Index 2003: China. Onlinequelle: „http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/laendergutachten/asien_ozeanien/China.pdf“; letzter Aufruf: 24.01.08.

Rassismustheorien

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Rassismustheorien

1 Einleitung

rassismusAls ich mich neulich auf meine Erdkundeklausur vorbereitete, stolperte ich über eine Weltkarte in meinem ehemaligen Diercke-Schulatlas, welche die Verteilung verschiedener menschlicher ›Rassen‹ darstellt (Abb. 1). Es wird dort zwischen drei ›Großrassen‹ unterschieden: Europide, Negride und Mongolide. Mulatten wären demnach ›Neuzeitliche Mischformen‹ aus ›negrider und europider Großrasse‹, Mestizen solche aus ›mongolider und europider Großrasse‹. Bei einer anderen Karte wird der Begriff Neger benutzt, um die Verteilung der verschiedenen Rassen angehörenden südamerikanischen Bevölkerung darzustellen (vgl. Diercke-Weltatlas 1991, S. 237 und 206).
Kurze Zeit später traf ich mich mit einem Freund, der selbst Erdkunde und Biologie studiert, auf einen Kaffee und erzählte ihm von der ›Rassenkarte‹, deren Entdeckung in einem 1991 erschienenen Atlas mich mehr als verwundert hatte. Er fragte mich, was daran so besonders sei – was mich sehr erstaunte, schließlich hatte ich noch aus einer Sitzung des Politik-Examenskolloquium die Aussage von STUART HALL im Kopf: »Es gibt m.E. keine wissenschaftliche Grundlage für die Aufteilung der Menschheit in biologisch unterscheidbare ›Rassen‹.« (HALL 1989, S. 7) Wir gerieten in einen leichten Disput, an dessen Ende die Erkenntnis stand, dass in seinem Erdkunde(!)-Studium die Rassenunterschiede der Menschen von verschiedenen Professoren als selbstverständlich betont werden würden – übrigens ohne dass damit eine unterschiedliche Wertigkeit der Menschen ausgedrückt werden solle. Da ich in meinem Erdkunde-Studium mit solchen Thesen nicht konfrontiert worden war , war ich verwundert über diese scheinbar deutlichen inhaltlichen Unterschiede innerhalb der Wissenschaft zu dieser Frage. Grund genug, etwas Genaueres über die verschiedenen wissenschaftlichen Grundlagen von Rasseneinteilungen der Menschen herauszufinden.

2 Wissenschaftliche Grundlagen zur biologischen Rasseneinteilung der Menschen

It is clear that our perception of relatively large differences between human races and subgroups, as compared to the variation within these groups, is indeed a biased perception and that, based on randomly chosen genetic differences, human races and populations are remarkably similar to each other, with the largest part by far of human variation being accounted for by the differences between individuals. Human racial classification is of no social value and is positively destructive of social and human relations. Since such racial classification is now seen to be of virtually no genetic or taxonomic significance either, no justification can be offered for its continuance.

(LEWONTIN 1972, zit. n. EDWARDS 2003, S. 798)

LEWONTIN plädiert 1972 aufgrund von genetischen Untersuchungen dafür, die Einteilung der Menschheit in Rassen als wissenschaftlich unbegründet fallen zu lassen. Er führt dies im Wesentlichen darauf zurück, dass beim Vergleich der Gene verschiedener Menschen die Unterschiede zwischen Individuen innerhalb einer ›Rasse‹ fast genau so groß sind wie zwischen Individuen unterschiedlicher ›Rassen‹: »The mean proportion of the total species diversity that is contained within populations is 85.4%. Less than 15% of all human genetic diversity is accounted for by differences between human groups!« (LEWONTIN 1972, zit. n. EDWARDS 2003, S. 798) LEWONTIN sieht in der Betonung des ›Rasse‹-Begriffs vielmehr eine ideologische Zielsetzung:

The taxonomic division of the human species into races places a completely disproportionate emphasis on a very small fraction of the total of human diversity. That scientists as well as nonscientists nevertheless continue to emphasize these genetically minor differences and find new ›scientific‹ justifications for doing so is an indication of the power of socioeconomically based ideology over the supposed objectivity of knowledge.

(LEWONTIN 1974, zit. n. EDWARDS 2003, S. 799)

EDWARDS allerdings kritisiert an den Untersuchungen, diese würden auf einem Irrtum in der Lesart der statistischen Daten basieren (vgl. EDWARDS 2003, S. 799 f.); die Fehlermöglichkeit bei einer Zuordnung von Individuen zu jeweiligen Populationen aufgrund genetischer Daten gehe – richtig interpretiert – gegen null. Er kommt daher zu dem Ergebnis:

There is nothing wrong with Lewontin’s statistical analysis of variation, only with the belief that it is relevant to classification. It is not true that »racial clasification is … of virtually no genetic or taxonomic significance«. It is not rue, as Nature claimed, that »two random individuals from any one group are almost as different as any two random individuals from the entire world«, and it is not true, as the New Scientist claimed, that »two individuals are different because they are individuals, not because they belong to different races« and that »you can’t predict someone’s race by their genes«. Such statements might only been true if all the characters studied were independent, which they are not.

(EDWARDS 2003, S. 801)

Er zieht daraus den Schluss, dass es gefährlich sei, sich argumentativ auf wissenschaftliche Forschungen zu berufen, um vermeintlich ungerechtfertigte biologische Klassifizierungen zu widerlegen:

A proper analysis of human data reveals a substantial amount of information about genetic differences. What use, if any, one makes of it is quite another matter. But it is a dangerous mistake to premise the moral equality of human beings on biological similarity because dissimilarity, once revealed, then becomes an argument for moral inequality.

(EDWARDS 2003, S. 801)

Die wichtige Erkenntnis bei der Betrachtung genetischer Untersuchungen zur Klassifizierung von Menschen scheint also zu sein, moral equality nicht mit biological similarity zu begründen (vgl. BALIBAR 1989, S. 373). Damit soll allerdings keine Aussage darüber getroffen werden, ob es in Ordnung ist, erstens die Weltbevölkerung anhand verschiedener Rassen eingeteilt in einem Schulatlas darzustellen oder zweitens im universitären Betrieb die biologische Klassifiziertheit der Menschen als selbstverständliches Faktum darzustellen. Schließlich ist die Frage berechtigt, inwiefern auch noch so wertneutral intendierte Kategorien tatsächlich wertneutral verstanden und benutzt werden.

3 Rassismus

Mit obigen Ausführungen zur genetischen Rechtfertigung einer Klassifizierung der Menschen muss HALLs Feststellung »Ich fasse das bisherige in einer Paradoxie zusammen: ›Rasse‹ exisitert nicht, aber Rassismus kann in sozialen Praxen produziert werden« (HALL 1989, S. 7) zwar differenzierter betrachtet werden. ROBERT MILES stellt diesbezüglich allerdings fest: »[Es gibt] bis heute die Auffassung, der Rassismus-Begriff verweise ausschließlich auf Theorien über ›Rasse‹, der ›Rasse‹-Diskurs müsse also präsent sein, damit man von Rassismus sprechen könne. Dieser Ansicht bin ich nicht.« (MILES 1989, S. 353) HALLs Aussage kann dementsprechend also reformuliert werden in »Ob ›Rasse‹ existiert oder nicht – Rassismus kann in sozialen Praxen produziert werden.« Daraus wir deutlich, dass sich an der eigentlichen Problematik nichts ändert: Mit der Verifizierung oder Falsifizierung der biologisch-wissenschaftlichen Berechtigung, von verschiedenen menschlichen Rassen zu sprechen, lassen sich rassistische Praxen weder verhindern noch begründen.
Was aber ist Rassismus? Das Lexikon der Politikwissenschaft definiert Rassismus als »eine Ideologie, die soziale Phänomene mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Analogieschlüsse aus der Biologie zu erklären sucht. Als Reaktion auf die egalitären Universalitätsansprüche der Aufklärung betreibt der Rassismus eine anscheinend unantastbare Rechtfertigung sozialer Ungleichheit durch den Bezug auf naturwissenschaftliche Gewissheiten.« (NOHLEN und SCHULTZE 2005, S. 810) Die Begriffe ›Ideologie‹ und ›Rechtfertigung sozialer Ungleichheit‹ scheinen hier wesentlich, die wissenschaftliche Bezugnahme scheint weniger elementar für eine Definition zu sein, schließlich ist die Wahrnehmung phänotypischer Unterschiede ausreichend für eine Unterscheidungskonstruktion. MILES führt zur Erklärung dieses Selektionsprozesses den Begriff Bedeutungskonstitution ein:

Beim »Rasse«-Diskurs schließt die Bedeutungskonstitution zwei Ebenen der Selektion ein. Auf der ersten werden zunächst allgemeine biologische oder somatische Merkmale als Mittel der Klassifizierung und Kategorisierung ausgewählt. Auf der zweiten werden aus der Reihe zur Verfüguing stehenden somatischen Merkmale diejenigen ausgwählt, die dazu bestimmt sind, eine angenommene Differenz zwischen Menschen zu bezeichnen. […] Spricht man also von »Rassen«, dann ist dies das Resultat eines bestimmten Prozesses der Bedeutungskonstitution: bestimmte somatische Merkmale (z.B. die Hautfarbe) werden bedeutungsvoll aufgeladen und so zum Einteilungskriterium von als »Rasse« definierten Bevölkerungsgruppen gemacht. An die auf Grund bestimmter phänotypischer Unterschiede gekennzeichneten Menschen heften sich gewöhnlich weitere, spezifische oder einzigartige kulturelle Merkmale, mit dem Ergebnis, daß eine »Rasse« als etwas vorgestellt wird, dem ein spezifisches Profil biologischer und kultureller Eigenschaften zukommt.

(MILES 1989, S. 354)

Bedeutungskonstitution ist die Voraussetzung für Rassenkonstruktion, worunter MILES »einen Prozeß der Grenzziehung zwischen verschiedenen Gruppen [versteht], wobei bestimmte Personen, primär mit Bezug auf (angenommene) angeborene (gewöhnlich phänotypische) Merkmale innerhalb dieser Grenzen verortet werden. Es handelt sich also um einen ideologischen Vorgang.« (MILES 1989, S. 356) Der Prozess der Rassenkonstruktion sei zwar eine Bedingung für Rassismus, dieser gehe aber noch einen Schritt weiter:

Der Rassismus ist eine Repräsentationsform, die Gruppen von Menschen gegeneinander abgrenzt und zwangsläufig als eine Ideologie der Ein- und Ausschließung funktioniert. Aber anders als im Prozeß der Rassenkonstruktion, wo Personen etwa durch die Bedeutung der Hautfarbe zugleich ein- und ausgeschlossen werden, funktioniert der Rassismus als ein Spiegel, in dem die negativen Merkmale des Anderen als positive Merkmale des Selbst zurückgeworfen werden. Rassismus setzt also Rassenkonstruktion voraus, geht aber darüber hinaus, indem er explizit negativ bewertete Elemente benutzt.

(MILES 1989, S. 359)

In dem Artikel Gibt es einen »neuen Rassismus«? hebt ETIENNE BALIBAR verschiedene Ebenen, auf denen Rassismus stattfindet, hervor und betont gleichzeitig die Segregation als seine wesentliche Eigenschaft: »Der Rassismus gehört […] in den Zusammenhang einer Vielzahl von Praxisformen […] und von Diskursen und Vorstellungen, die nichts weiter darstellen als intellektuelle Ausformulierungen des Phantasmas der Segregation bzw. Vorbeugung […] und die sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal ›Anderen‹ […] herum artikulieren.« Zu den Praxisformen zählt er »Formen der Gewaltanwendung […], der Mißachtung, der Intoleranz, der gezielten Erniedrigung und der Ausbeutung«. Unter dem Phantasma der Segregation versteht er die vermeintliche »Notwendigkeit, den Gesellschaftskörper zu reinigen, die Identität des ›eigenen Selbst‹ bzw. des ›wir‹ vor jeder Promiskuität, jeder ›Mestizisierung‹ oder auch jeder ›Überflutung‹ zu bewahren .« Im Rassismus gehe es dementsprechend darum, »Stimmungen, Gefühle zu organisieren […], indem sowohl ihre ›Objekte‹, als auch ihre ›Subjekte‹ stereotypisiert werden. Aus eben dieser Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen in einem ganzen Netz von Gefühlsstereotypen läßt sich die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft erklären.« (BALIBAR 1989, S. 369 f.) Während also MILES den Schwerpunkt seiner Rassismus-Definition auf dessen sukzessiven Aufbau legt, betont BALIBAR die Zusammenhänge der verschiedenen Ebenen, um so eine rassistische Gemeinschaft zu erklären. Darüber hinaus weist HALL darauf hin, dass es weitere Dimensionen des Rassismus-Begriffs gibt: »Wo immer wir Rassismus vorfinden, entdecken wir, daß er historisch spezifisch ist, je nach der bestimmten Epoche, nach der bestimmten Kultur, nach der bestimmten Gesellschaftsform, in der er vorkommt.« (HALL 1989, S. 11)
Um die Ausführungen zusammenzufassen: Zum einen setzt Rassismus Rassenkonstruktion voraus, die auf Bedeutungskonstitution beruht (MILES), zum anderen findet Rassismus in Praxisformen, Diskursen und Vorstellungen statt (BALIBAR) und seine historischen Ausprägungen waren immer spezifisch (HALL). Der Begriff Selektion ist dabei bei allen Schwerpunktsetzungen wesentlich.

4 Schlussbetrachtung

Interessanterweise zeigt BALIBAR in seinem Artikel einen »Neuen Rassismus« auf, der Prozesse der Rassenkonstruktion nach MILES nicht zu benötigen scheint: einen Rassismus ohne Rassen.

[Der Rassismus ohne Rassen ist ein] Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf »beschränkt«, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet worden.

(BALIBAR 1989, S. 373)

Allerdings wird schnell deutlich, dass die Funktionsweise des Prozesses der Selektion trotz der Negierung natürlicher Einteilungskriterien sich nur gerinfügig ändert und im Wesentlichen – vor allem im Ergebnis – vergleichbar bleibt:

Hier kommt die Tatsache zum Ausdruck, daß ein biologischer oder genetischer »Naturalismus« keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen und Gesellschaftlichkeit darstellt. Wenn sie für das – ohnehin stärker dem bloßen Anschein verhaftete als reale – Modell einer Hierarchie (von Natur und Kultur) aufgibt, kann auch die Kultur durchaus als eine solche Natur fungieren, insbesondere als eine Art, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unverrückbares Bestimmt-Sein durch den Ursprung.

(BALIBAR 1989, S. 374)

Nehmen wir diese Erkenntnis einmal, um auf ein Buch zu blicken, das unter dem Titel Das Ende des Weißen Mannes: Eine Handlungsaufforderung letztes Jahr veröffentlicht wurde. Der vordergründig rassistisch wirkende Titel ist wohl in der Tat kaum mehr als Polemik – die im Buch zum Vorschein kommende Auffassung der Genese kultureller Unterschiede und deren Folgen liest sich aus der Perspektive der oben stehenden Ausführungen jedoch als eine Entlarvung eines Rassismus ohne Rassen . Aus einer Kritik im Kölner Stadtanzeiger:

Der Laudator Hans-Olaf Henkel bringt es auf den Punkt: »Das Ende des Weißen Mannes« von Manfred Pohl ist »politisch unkorrekt«. Aber vielleicht müssen Bücher und Streitschriften heute so sein, wenn sie überhaupt wahrgenommen werden wollen. Manfred Pohl, Historiker, Philosoph, Finanzfachmann und Autor zur Geschichte des Nationalsozialismus, provoziert: Pohl fordert die westliche, vor allem aber die deutsche Gesellschaft zum Handeln auf. Nicht morgen oder übermorgen, sondern sofort. »Das Ende des Weißen Mannes« ist mehr als der Abgesang auf eine Welt, die sich demographisch rasch zugunsten anderer Völker und Rassen wandelt. Pohl nennt Zahlen, als sein Buch in Berlin vorgestellt wird. Im Jahr 2050 werden »der weiße Mann« – »und die weiße Frau«, ergänzt Henkel nachsichtig – weder in Europa noch in den USA länger die Mehrheit der Bevölkerung stellen. An ihre Stelle wird der »Multi-Colour-Man« treten, Menschen, die sich nicht länger über die Hautfarbe, sondern über ihre regionale und kulturelle Herkunft identifizieren. Wer also westliche Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auch weiter gewahrt sehen möchte, muss heute schon dafür sorgen, dass dieses Erbe des »Weißen Mannes« rechtzeitig weitergegeben wird.

(KONVENT-FUER-DEUTSCHLAND.DE2)

Der Autor, MANFRED POHL, ist »ausgewiesener Historiker und Kulturexperte« (KONVENT-FUER-DEUTSCHLAND.DE1, aus einer Pressemitteilung des Westkreuzverlags), Mitglied im Konvent für Deutschland sowie Vorsitzender des jüngst gegründeten Frankfurter Zukunftsrates, der sich zum Ziel gesetzt hat, ein alle Bereiche umfassender ›think tank‹ für gesellschaftliche Entwicklung zu sein . Auf dessen Homepage war bis vor wenigen Tagen noch der Satz »Wie müssen Hierarchiestrukturen aufgebaut werden, um in der Globalisierung zu bestehen?« zu lesen – mittlerweile wurde er gelöscht (im Google-Cache noch nachweisbar: vgl. GOOGLE.DE, vgl. FRANKFURTER-ZUKUNFTSRAT.DE). In einem solchen elitären Selbstverständnis liest sich die ›Handlungsaufforderung‹ zur Rettung des ›Weißen Mannes‹ etwas anders.
Dieser abschließende Blick weg vom eigentlichen Thema Rassismustheorien soll eines verdeutlichen: Rassismustheorien sollen nicht allein dazu dienen, einen theoretischen Überblick über vergangene Formen und Entstehungsprozesse von Rassismen zu erhalten, sondern vielmehr durch das Verständnis grundlegender Mechanismen wie Selektion und Identitätsschaffung durch Ausschließungspraxen helfen, konkrete rassistische Praxen zu entlarven.

5 Literatur

– AUERNHEIMER, GEORG: Kulturelle Identität – ein gegenaufklärerischer Mythos? In: HAUG, FRIGGA und HAUG, WOLFGANG FRITZ (Hrsg.): Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften: 175; S. 381-394. Argument-Verlag: West-Berlin 1989.

– BALIBAR, ETIENNE: Gibt es einen »neuen Rassismus«? In: HAUG, FRIGGA und HAUG, WOLFGANG FRITZ (Hrsg.): Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften: 175; S. 369-380. Argument-Verlag: West-Berlin 1989.

– EDWARDS, A.W.F.: Human genetic diversity: Lewinton’s fallacy In: WILEY, JOHN: BioEssays 25, 2003. Onlineressource: »http://www.goodrumj.com/Edwards.pdf«

– FINZSCH, NORBERT und SCHIRMER, DIETMAR: Identity and Intolerance: Nationalism, Racism, and Xenophobia in Germany and the United States. The German Historical Institute: Washington, D.C. 1998. (Nur Preface und Introduction, S. vii-xxxix)

– GEISS, IMANUEL: Geschichte des Rassismus. Suhrkamp Verlag: Frankfurt a.M. 1988. (Nur Einleitung und I. Grundlagen des Rassismus, S. 9-47; VII. Rassismus seit 1945, Ausblick und Zeittafel, S. 294-338)

– HALL, STUART: Rassismus als ideologischer Diskurs, Vortrag 1989. In: RÄTHZEL, NORA: Theorien über Rassismus. Argument-Verlag: Hamburg 2000.

– MILES, ROBERT: Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: HAUG, FRIGGA und HAUG, WOLFGANG FRITZ (Hrsg.): Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften: 175; S. 353-368. Argument-Verlag: West-Berlin 1989.

– NOHLEN, DIETER und SCHULTZE, RAINER-OLAF (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft: Theorien, Methoden, Begriffe – Band 2. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2005. C. H. Beck-Verlag: München 2002.

– GOOGLE.DE: »http://209.85.129.104/search?q=cache:8jdc2F_Kup8J:www.frankfurter-zukunftsrat.de/+frankfurter+zukunftsrat&hl=de&ct=clnk&cd=1&gl=de«

– FRANKFURTER-ZUKUNFTSRAT.DE: »http://www.frankfurter-zukunftsrat.de/Anspruch/«

– KONVENT-FUER-DEUTSCHLAND.DE1: »http://www.konvent-fuer-deutschland.de/downloads/files/koelner.pdf«

– KONVENT-FUER-DEUTSCHLAND.DE2: »http://www.konvent-fuer-deutschland.de/aktuelles/Presseinformation_Buch_Pohl.pdf«