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Angst Essen Google Auf

Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einer Schülerin über ihr vergangenes Prüfungsthema, digitale Demenz. Ich fragte mich, was sie damit meinte. Ob es in die Richtung von Manfred Spitzers Behauptungen Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (E-Book Version kompakt, für die Denkfaulen, tolles Marketing!) gegangen ist? Seine Thesen scheinen übrigens hohe Wellen geschlagen zu haben: OK, Google, Where Did I Put My Thinking Cap? Man könnte da aber auch etwas neutraler vom Internet als externem Gedächtnis sprechen. Oder Supergehirn.

Oder meinte meine Schülerin mit dem Begriff digitale Demenz nicht analoge Ignoranz, sondern dass das Internet – und damit womöglich auch die Menschheit – ständig Dinge vergesse? (Zur Erklärung: Diego hat neulich in der Berghainschlange festgestellt, dass die meisten externen Links auf der AKBp-Seite nicht mehr funktionieren. Soo lange ist das mit dem AKBp nun auch nicht her, siehe Gründungsmythos.) Dabei wird das Internet ja hier irgendwie gespeichert: The Wayback Machine. Die Frage ist nur, ob das als Gedächtnis zählt. Eigentlich wird da ja nicht ein komplettes Netzwerk gespeichert. Vielleicht ist das ein bisschen so, als würde ein Mensch immer alles aufschreiben, aber nicht verknüpfen und sortieren. Ein Gedächtnis funktioniert also eigentlich nur mit einer Instanz, welche die Erinnerungen sortieren und aufbereitet darbieten kann. Sowas wie Google also. Logisches Problem: Falls die Benutzung der Suchmaschine tatsächlich dazu führen sollte, dass wir weniger selbst denken und das Internet in der Folge mit immer weniger neuen bzw. relevanten Daten füttern, werden dann nicht alle Informationen irgendwann redundant? Vergisst das Internet schließlich sich selbst? Das ist, wenn ich mich richtig erinnere, der Traum des Überwachungssystems in George Orwells1984: Mittels Neusprech die Sprache schließlich auf ein Wort zu reduzieren. Dort kontrolliert das System die Menschen übrigens mit ihren persönlichen Ängsten.

(Da geht’s schon unaufhaltbar voran mit der digitalen Demenz. Wollte gerade irgendwo weiter oben den Link zu dem Film Lo And Behold – Reveries Of The Connected World einfügen. Die Domain ist nicht mehr vergeben: http://www.loandbehold-film.com/)

Zwischendurch zur Klarstellung: Ich will damit echte Demenz nicht veralbern.

Ich denke, dass das Thema digitale Demenz vor allen Dingen von Angst geschürt wird, so wie viele Themen gerade, die den derzeitigen sinnentleerten Wandel markieren. Viele wünschen sich in die Vergangenheit zurück, die sich im Gewand der Erinnerung (dank selektiver Sortierung und Aufbereitung) heute besser darzustellen vermag, als sie es damals als  Gegenwart vermochte.

So würde sich auch erklären, wieso neulich der Pfarrer in Wissenbach (Vakanzvertretung) so krudes, pseudoanalytisches Zeugs gepredigt hat. Thema der Predigt: Was hat das Christentum Gutes für Deutschland gebracht. (Predigtext war, wenn ich mich richtig erinnere, Matthäus 23 – was mit dem Thema nichts zu tun hat, höchstens mit seiner Sichtweise auf sich selbst, falls er sich wirklich als Rebell in der evangelischen Kirche versteht, wie meine Mutter mal meinte.) Mein Gedächtnis hat einen Großteil der Predigt mittlerweile verdrängt. (Das lässt in mir den Gedanken keimen, dass Vergessen Arbeit ist und daher mit Anstrengung verbunden ist.) In seiner Ansprache richtete er sich immer wieder direkt an die drei Jugendlichen vor mir, nutzte dabei aber Wörter wie Attribut und anthropophil (oder androphil?). Es gipfelte schließlich in der Aussage: „Und wenn es in Deutschland nicht so viele Abtreibungen gäbe, bräuchten wir weniger ausländische Fachkräfte.“  Ich hab mich währenddessen schwer aufgeregt und konnte nicht still sitzenbleiben in der Bank, bin es meiner Mutter zu Liebe aber doch. Hatte der Pfarrer wohl auch gemerkt, weil er da sowas in seinen Schluss einbaute wie „Auch wenn es hier manche aufregen mag…“. (Meiner Mutter hat dieser harte Satz vorher übrigens auch nicht gefallen, wie sie mir später sagte.)

Diese Predigt und auch die Thesen Manfred Spitzers würden, glaube ich, ohne ein dahinter gedachtes Früher war alles besser nicht wirklich greifen. Und dieser Gedanke kommt vielen, glaube ich,  derzeit durch eine Angst vor der Zukunft im Angesicht der Gegenwart.

Unsere negativen Emotionen sind aber ein schlechter Archivar unserer Erinnerungen.

Nachtrag:
Jetzt habe ich völlig vergessen, zu erzählen, wie ich überhaupt aktuell auf das Thema gekommen bin: Neulich habe ich eine Deutschgeschichte, Klasse 6, korrigiert, in der ein Schüler einen merkwürdigen Rechtschreibfehler eingbaut hatte: Am Anfang dachten alle, es Wärme nur eine Frage der Zeit. Wie zum Geier schleichen sich schon t9-artige Tippfehler, wie man sie von der Autovervollständigung bspw. aus Whatsapp kennt, in handschriftliche Texte ein? Ich Rätsel Zimmer noch, wie ihm das Passwort konnte.