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Buchbesprechung

Vergangene Nacht habe ich etwas geträumt, an das ich mich teilweise erinnere – das ist nicht selbstverständlich. Es ging um ein Buch: As far as I am. von Heinz Erhardt.

Es besteht aus drei Teilen, die sich jeweils mit einem Abschnitt aus dem Leben des Künstlers beschäftigen. Das grobe Erzählgerüst ist autobiographisch gehalten, besitzt aber viele fiktive Elemente, die es eindeutig zu einem Roman im klassischen Sinne machen. Es ist bebildert mit Ansichten im Postkartenformat aus der „guten alten Zeit“ und umfasst ca. 330 Seiten. Den Verlag habe ich leider vergessen.

Kommen wir zum Inhalt. Hier wird es etwas trickreich, denn ich will nicht zu viel verraten. – Kann ich auch gar nicht, denn ich hatte mir das Buch ausgesucht, um es in einer Arbeit zur Verteidigung meines Beamtentums zu untersuchen. (Es handelt sich um eine Art 3. Staatsexamen.) Nach langem Vorgespräch mit dem zuständigen Professor wurde meine Gliederung schließlich genehmigt, ich ging in die Buchhandlung, holte meine 5bändige Spezialausgabe von As far as I am. ab und fing an zu schreiben. Wegen Zeitmangels konnte ich den Roman kaum leesen und sog mir für meine schriftliche Arbeit etwas aus den Fingern. Ich weiß, dass ich unzufrieden mit dem Haupteil war, doch um ihn zu verbessern, musste ich den Roman vollständig lesen, das war ausgeschlossen. Ob ich die Arbeit fertigstellen konnte, will ich hier nicht verraten…

Mir hat As far as I am. wirklich gut gefallen. Vor allem beeindruckt mich nach wie vor das Repertoire des Autors, da er mir bislang nur durch seine deutschsprachigen Gedichte bekannt gewesen ist. Die philosophische Denktiefe, die in der geschickt angeordneten Verquickung autobiographischen und fiktiven Stoffs an vielen Stellen aufblitzt, habe ich so noch nirgends gelesen. Seitdem lese ich Erhardt völlig neu. So ist zum Beispiel für das heiter wirkende Gedicht Die Made eine völlige neue Rezeption zwingend erforderlich („Schade!“). As far as I am. ist der Schlüssel zu Heinz Erhardts Gesamtwerk.

Ich grübele übrigens seit dem Aufwachen nach einer passenden Übersetzung des Titels.

Wartezimmer

Ich saß neulich beim Arzt im Wartezimmer. Da ist mir aufgefallen, dass es dort eine stille Übereinkunft bestimmter Verhaltensweisen gibt.

  • Das Grüßen geht nur vom Eintretenden aus, nie von den Wartenden.
  • Man redet grundsätzlich nicht – es sei denn, man kennt sich, dann muss man reden.
  • Gespräche zwischen zwei einander unbekannten, die manchmal aus einem konkreten Anlass beginnen, brechen abrupt ab, wenn eine bestimmte Intimitätsebene erreicht wird.
  • Kinder kennen diese stillen Übereinkünfte nicht.

Kurz: Verhalte dich wie in der Sauna.

Preisfrage: In welchen (halb-)öffentlichen Räumen gelten diese Regeln noch? Tipp: Der Fahrstuhl ist es nicht.

Beerdigungstourist

Am Freitag wollte ich auf eine Trauerfeier. Zehn Minuten vor Beginn berat ich über einen Nebeneingang den Neuen Friedhof – zum ersten Mal war ich dort – und machte mich auf dem riesigen Gelände auf die Suche nach der Kapelle. Schließlich sah ich das passende Gebäude und eilte zum Seitenaufgang, doch als ich gerade die Treppe zum Innenhof aufsteigen wollte, kam mir plötzlich eine Urne samt Trauerzug entgegen. Ich wand mich möglichst unauffällig um – und machte mich auf die Suche nach einer alternativen Kapelle, schließlich konnte dort, wo die eine Trauergemeinde das Gebäude verlässt ja nicht in wenigen Minuten die nächste Trauerfeier beginnen. Oder hatte ich mich womöglich in der Zeit geirrt? Zwischen den Bäumen der parkähnlichen Anlage lugte ich immer wieder Richtung Trauerzug, ob ich nicht doch jemanden erkennen würde. In meinem türkis-blauen Outfit – ein Wunsch der Hinterbliebenen war es, die Lieblingsfarben des Verstorbenen zu tragen – wirkte ich ziemlich verloren zwischen den Sträuchern und Bäumen des weitläufigen Friedhofs. Ich entschied, mein Glück nochmals beim Ausgangsgebäude zu probieren. Dort traf ich dann diesmal – es waren etwa 7-8 Minuten vergangen – auf die richtige Trauergemeinde. Man klärte mich flüsternd noch schnell auf, dass die vorausgegangene Trauerfeier eine Stunde zu spät gewesen sei, ich hätte gerade noch das aufgestellte Bild des zuvor zu Bestattenden verpasst, was recht makaber gewesen sei. Was dann begann, war eine bewegende Trauerveranstaltung.

Eichholzkopf

Nachdem der letzte Fahrradausflug nach etwa 15 Minuten mit einem platten Hinterreifen unterbrochen wurde und dank Patricks Flickzeug die Fahrt nach etwa 30 Minuten fortgesetzt werden konnte, bin ich heute mal woanders lang. Schwer schie hey:

Die Festtagskilokalorien ächzten ganz schön ab 300m N.N. Also als es losging. Am Eichholzkopf bei 600m N.N. haben sie nur noch gewimmert, auch vor Kälte.

Schöpfung wird durch Fehler kreativ, sonst bleibt sie Wiederholung. Es folgt die Herausforderung der Kreatur, ihr einen Sinn zu geben.

Α) Für die Skeptiker unter uns: Wenn es die Ewigkeit gibt, dann gibt es sie längst.

Ω) Für die Skeptiker, unter uns: Wenn es die Ewigkeit nicht gibt, was sollte das Jetzt hier?

Selbstsucht

Das ist das Falsche an dem Wort Sich selbst finden, dass es eben nicht jenen gelingt, deren Suche nur leidenschaftlich und tüchtig genug war. Überhaupt findet erst zu sich selbst, wer die Suche aufgibt. Denn sich selbst finden meint eigentlich, sich selbst zu sehen, in gutem wie schlechtem Licht, das aber in einer Zufriedenheit, die so leidenschaftlich ist, dass sie andauert.

Fortschritt und Religion sind hilflos zerstrittene Geschwister, sie können sich in der Öffentlichkeit nicht zurücknehmen. Sehnsucht, ihre Mutter, ist maßlos überfordert. Glauben hat sie schon vor langem verlassen. Um sich selbst zu verwirklichen, sagt man.

Gutemine

Am 1.5. wollte ich einen Text mit dem Titel „Gutemine“ schreiben – der logische Schluss, da ich einen Entwurf mit diesem Titel in der Datenbank sah. Das Problem: Außer dem Titel gibt es nichts. Das eigentliche Problem: Ich erinnere mich an rein gar nichts.
Das Verstummen, ein Vergessen.

PS: Seit ich Whatsapp so gut wie nicht mehr nutze und mich bei Facebook abgemeldet habe, ist das Leben deutlich entspannter. Schuld an meiner vorherigen Anspannung trug jedoch meine mangelnde Kompetenz, mit den Dingern umzugehen – bevor sich hier irgendjemand aufs digitale Füßchen getreten fühlt.

Bibliothekswetter

Zum Korrigieren bin ich jetzt seit Langem mal wieder in die UB. Und was passiert? – Zack, hab ich mich zum Kaffeetrinken unten getroffen. Das Wetter lädt aber auch wieder zum Prokrastinieren ein, Junge. (Alter, sind die Leute hier klein geworden. Und die Gesprächsthemen meiner Holzbanknachbarn auch.)20151012_001

Ornithologe?

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Ok, nach dem Fehlerbild gibt es nun ein Suchbild: Findet den Vogel! Wenn mir dann noch jemand verraten kann, welcher Fink sich da in meinem Schlafzimmer verirrt hatte oder mir erklärt, wieso der Fink ein Spatz ist, gibt’s Extraapplaus. Dem Vogel ist übrigens wohler ergangen als jenem, der sich todesmutig in das vordere Laufrad einer Bekannten stürzte. Das war wohl übrigens eine Amsel, wie mir erzählt wurde.

Anzugträger

Gestern hatte ich die grandiose Idee, nach etwa 2-3 Stunden Radfahren, beim Abschlussabend der Schule im Anzug auszuschwitzen. Ausgangspunkt war das Pauseneis im Kloster Arnsburg, das energietechnisch eh fragwürdig dazu führte, dass ich erst um 17.20h in der Wohnung ankam, um 18.00h sollte ich schließlich in Atzbach sein. Nicht unmöglich. 18.05h war es dann, als ich lässig, als würde ich jeden Tag den Anzug tragen, mit dem Jackett in der Ellbeuge und der Kamera in der Hand an der Mensa der Schule vorbeiging mit festem Blick auf die Turnhalle, in der Abschlussfeier vermutlich schon begonnen hatte. In der Mensa jedoch räumten zwei wichtige Lehrer hektisch Stühle beieinander, ich versuchte das zu ignorieren, wurde allerdings von der Stundenplanfrau doch noch entdeckt und so kam es, dass ich mit vier Stühlen in der Hand und Kamera und Jackett auf dem Stuhlstapel etwas weniger lässig zur Turnhall ächzte. Der 9.-Klässler vor mir bekam das deutlich entspannter hin, er erinnerte mich an den Jugendlichen, der mich (Rennrad, Radlerkluft, Straße) vorhin mit seinem Billighardtail auf dem Bürgersteig überholt hatte. „Ich mach ja auf Ausdauer!“, hatte ich mich in dem Moment beruhigt, um den Jugendlichen keine Kraftausdrücke an den Kopf zu werfen, um meine Niederlage sinnvoll zu kompensieren. Während ich mich daran erinnerte, war der 9.-Klässler schon in der Turnhalle verschwunden und damit auch meine Chance, irgendwas irgendwie zu kompensieren. Ich trug die Stühle rein, suchte mir einen geeigneten Platz zum Fotografieren, stehend an der Seitenwand – und begann langsam aber stetig zu schwitzen. Die Klimasituation in der vollen Halle trug dazu bei, ebenso wie die Tatsache, dass ich keine Tücher dabei hatte, dass der Boden unter mir, genauer gesagt meinen Unterarmen nicht lange trocken blieb. (Zum Glück ist meine Kamera wasserabweisend…) Ich wurde dann im Laufe des Abends erstaunlich oft darauf angesprochen, dass es in der Halle ja ganz schön warm sei. Ja, sagte ich dann jedesmal. Kann man klüger antworten, wenn man nicht hinterherkommt, die Schweißtropfen von der Brille zu wischen? Die Toiletten waren nur mit Föhns zum Händetrocknen ausgestattet, das war dann auch nicht hilfreich. Ich hab dann gemerkt, wie saugstark so ein Anzugstoff sein kann… Jedenfalls dauerte das Ausschwitzen etwa 40 Minuten und die ganze Veranstaltung etwa zwei Stunden. Viele gute Reden gab es mit einem Satz von der Vorsitzenden des Förderkreises an die abgehenden Schüler gerichtet, der mir im Gedächtnis blieb:

 

Seid mutig und besteigt die höchsten Berge, um die Welt zu sehen, aber nicht, um von der Welt gesehen zu werden.

 

Ps: Ich hab mal geleesen, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn man viel schwitzt, da das zeigt, dass der Kühlmechanismus des Körpers gut trainiert ist.

 

HUK-Coburg

Vergangene Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich meinen Job als Lehrer aufgegeben hatte, um stattdessen Versicherungskaufmann zu sein, weil ich das eigentlich immer wollte (WHAT?). Als ich dann als alter Hase in unserem Konzern eine Gruppe Besucher mit einer Ansprache begrüßen sollte, merkte ich während dem Reden, dass ich den neuen Job bereue und wachte auf.

Nasser Hund

Ich gebe zu, dass ich derzeit etwas viel Hundebilder poste. Diese hab ich gemacht, nachdem ich mit ihm im Regen laufen war.
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Im Schwitzkasten des Zeitdrucks

Neulich wurde auf dem Geburtstag meines Vaters ein Gespräch über die schwierigen Bedingungen, unter denen Lieferfahrer arbeiten müssen, geführt. Vor allen Dingen der Zeitdruck könne dabei an so manchem Nervenkostüm nagen, so der Einblick von Betroffenen. Durch das Gespräch fühlte ich mich an einen Vorfall erinnert, in den ich vor ein bis zwei Jahren verwickelt war:

Hiobs Frage

Massoud hatte mich vorgewarnt, daß Tante Lobats ganzer Körper vom Ausschlag wund sei und offenbar schrecklich jucke; ständig müsse sie massiert werden, eingeölt oder einfach nur gekratzt. Obwohl sie ihr Morphium gaben, wimmerte sie den ganzen Tag kläglich vor sich hin, wenn sie nicht aufschrie, daß es noch den Nachbarn ins Mark gehen mußte, oder vor Schmerz gleich in Ohnmacht fiel. Man liest das in Romanen, daß Menschen auf einen Schlag um ein halbes Menschenleben altern können. Hier war das so: Ein Jahr zuvor hatte mich eine zwar schmerzgeplagte, aber fröhliche Frau von siebzig, fünfundsiebzig Jahren verabschiedet, nun war ich zurückgekehrt zu einem hautbespannten Skelett, bei dem sich das Alter schon nicht mehr schätzen ließ. Bewegen konnte sie nur noch die Hände, sprechen nichts außer der unverständlichen Reihung von Silben. Die Haare, die sie, seit ich denken kann, immer zusammengesteckt und bei Besuch unter einem Kopftuch versteckt hatte, breiteten sich schneeweiß in alle Richtungen aus, zogen sich wirr übers ganze Kissen und bis zur Brust herab. So sehr war sie abgemagert, daß sich in ihrem einst kugelrunden Gesicht alle Wölbungen und Einkerbungen des Schädels abzeichneten. Um so größer waren die Augen, die mich aus tiefen Höhlen anstarrten, als ich das Zimmer betrat.

Mein Gebein hanget an mir an Haut und Fleisch, und ich kann meine Zähne mit der Haut nicht bedecken. Erbarmet euch mein, ihr meine Freunde! denn die Hand Gottes hat mich getroffen (Hiob 19, 20-21)

Ich werde ihren Blick nie vergessen: Er war mehr als nur leidend, er war zornig und zugleich von tiefer kindlicher Furcht, in angestrengter Nachdenklichkeit, ratlos, hilflos und zugleich beschämt. Ja, es war ihr peinlich, nicht nur in einen solchen Zustand gebracht worden zu sein, sondern dabei auch noch von allen gesehen zu werden, dazu all diese Umstände, Mühen und Kosten, die sie verursachte. Sie war bei klarem Bewußtsein, das hatte mir Massoud vorher schon gesagt, damit ich nicht erschrecke, aber ich hätte es auch sofort an ihrem Blick bemerkt.

Die Tränen in den Augen mußte ich nicht verbergen, da sie ohnehin wußte, was vor sich ging. Auch sie weinte. Sie nahm präzise wahr, was mit ihr geschau, was sie durchlitt und daß wir ihr zusahen; sie reflektierte es, darauf deutete die Konzentration in ihrem Blick hin, aber ihr waren die Möglichkeiten genommen, darauf zu reagieren, es wenigstens zu kommentieren. Das machte sie wütend, das spürte ich genau. Sie wollte das nicht hinnehmen, alles andere, aber das nicht. Deshalb unternahm sie immer neue Anläufe zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, die Zunge zu den Sätzen zu bewegen, die sie auf den Lippen hatte. Sie stammelte etwas, blickte in unsere fragenden Gesichter, stellte fest, daß sie sich wieder nicht hatte verständlich machen können, und zuckte mit dem Kinn nach oben, um den Kopf im gleichen Augenblick verbittert von uns abzuwenden. Für mich war dies schwerer zu ertragen als die Schmerzensschreie: dieser nach oben zuckende und dann wegdrehende Kopf, das Wegwerfen, das sich darin andeutete, oder besser gesagt, der Versuch, es wegzuwerfen, das elende Leben, das den Aufwand nicht lohnt. Aber es ging nicht, nicht einmal das ging, denn es blieb an ihr haften, das Leben, sie konnte es einfach nicht abschütteln. „Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ‚Gib es auf, leg dich hin und stirb!‘ “ heißt es in einer Erzählung Sadeq Hedayats. „Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?“ Sie mußte weiter vor uns ausharren.

Und dennoch, so unangenehm ihr, der Glaubensstarken und immer Geduldigen, es war, vor uns so erbärmlich vorgeführt zu werden – noch schlimmer war für sie, wenn wir sie verließen, und sei es nur, daß einer aufs Klo mußte, denn sie vermochte nicht zu beurteilen, ob man auch wiederkommen würde. Sie verstand offenbar nur Bruchstücke dessen, was wir ihr zubrüllten, und dann war es auch so, daß sie uns oft nicht zu glauben schien, daß sie dachte, Badri oder Moussad würden sie nur schonen, wenn sie sagten, ihre Enkelin, ihr Bruder, ihr Neffe kämen gleich zurück. Wenn sie merkte, daß wir aus dem Zimmer gehen wollten, bettelte sie panisch wie ein kleines Kind, das nicht allein zu Hause bleiben will, da sie jedesmal dachte, wir würden nun nach Deutschland zurückkehren und sie würde uns nie mehr sehen. Wenn es einen Menschen gab, den Glaube und seelische Verfassung stark genug gemacht hatten, Schmerzen und Unheil zu erdulden, war sie es, aber das hier, das ging schlicht über ihre Kräfte hinaus, sogar über ihre Kräfte. Damit hatte sie nicht rechnen können, daß es so schlimm werden könnte, das hatte ihr niemand gesagt. Es stand in keinem Buch, nicht einmal im Buch Gottes, in dem sie täglich gelesen hatte. Es zog sich noch beinah ein Jahr hin, juckend, schmerzend, von Eiter überzogen: ein Martyrium. „Siehe da, er sei in deiner Hand“, sprach der Herr zu Satan (Hiob 2,6), der daraufhin Hiob mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel schlug: „Mein Fleisch ist um und um wurmig und kotig; meine Haut ist verschrumpft und zunichte geworden.“ (7,5)

Gewiß ist Hiob keine Person aus unserem täglichen Leben. Dennoch muß man nicht in die Geschichte oder ferne, krisengeschüttelte oder von Katastrophen heimgesuchte Länder gehen, um ihn zu finden. Ein Besuch im Spital genügt. Man braucht nicht einmal zu den Schmerzpatienten gehen. Die Scham kann den Menschen ähnlich zersetzen, das sagen einem alle Pfleger. Dort habe ich ihn getroffen, nur noch 46 Kilo schwer, der auf dem Stuhltopf saß und eine hellbraune Flüssigkeit schiß. Bett und Kleider waren verschmiert. Der Pfleger stülpte sich Handschuhe über und wusch Po und Geschlecht des Wimmernden behutsam mit einem Schwamm. Bestürzter hätte mich Hiob nicht ansehen können. Viel schlimmer als die Schmerzen war für meinen Großvater, daß er am Ende die Herrschaft über seine Blase verloren hatte. Man macht sich hier keinen Begriff davon, was es in Iran vor zwei, drei Jahrzehnten noch bedeutete, Oberhaupt der Familie zu sein, welche Würde es zugleich voraussetzte und mit sich brachte. Und da sah ich Dreizehnjähriger nun, wie sich Großvater vor allen Leuten in die Hose machte, und ich war dabei, als meine Tante Jaleh ihm die Unterhose wechselte. Dabei hatte er für sich von Gott nur zwei Dinge erbeten, wie mein Bruder ein paarmal mitgehört hatte: vor seinen Kindern zu sterben, was ihm nicht vergönnt war, da sein jüngster Sohn übernächtigt gegen einen Baum fuhr, und zu sterben, bevor er auf die Hilfe anderer angewiesen war. Nun hatte Gott ihm, dem Stolzen, die Hilflosigkeit ausbuchstabiert wie ein pedantischer, unnachgiebiger Lehrer. Auch Tante Lobat quälte die Scham über die eigene Schwäche, das sah ich genau. Nicht einmal Hiob, der nackt auf der Asche sitzt und sich mit einer Glasscherbe kratzt, der einst vor allen gerühmte Hiob hält es aus, daß Gott ihn zum Spott für die Leute ausgestellt hat: „Mein Odem ist zuwider meinem Weibe, und ich bin ein Ekel den Kindern meines Leibes. Auch die jungen Kinder geben nichts auf mich; wenn ich ihnen widerstehe, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen haben einen Greuel an mir.“ (19, 17-19)

Hiob konnte wenigstens noch klagen; meiner Tante war selbst dies verwehrt, sooft sie immer wieder neu versuchte, wenigsten einen einzigen Satz zu artikulieren. „O hätte ich einen, der mich anhört!“ (31, 35) Alle in meiner Familie, auch die Alten, waren sich einig, daß ihr das grauenvollste Sterben zuteil geworden war, an dem je einer von uns teilgenommen, von dem je einer gehört hatte – ausgerechnet ihr, der Gottesfürchtigsten unter uns, der Gerechtesten. Das genau ist die Erfahrung Hiobs, nicht nur das Leiden, auf welches das Christentum mit dem Kreuz eine entschiedene Antwort gibt, sondern dessen Ungerechtigkeit, das gottgewollte Unrecht, auf das auch das Kreuz nicht antwortet. Niemand hat es weniger verdient als er: „Denn es ist seinesgleichen nicht im Lande, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse“, spricht Gott, bevor Er Hiob dem Satan überläßt (1,8). Gerade weil Hiob gerecht ist, muß er leiden. Und wie Hiob zu Gott sagt, „Laß mich wissen, warum du mit mir haderst“ (10,2), so schien im bohrenden Blick meiner Tante die Frage zu liegen, warum Gott sie dem Bösen preisgegeben hatte – warum ausgerechnet sie? „Ist denn auf meiner Zunge Unrecht, oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?“ (6,30) In allen anderen Situationen hätte das eine selbstsüchtige Frage sein können. Hier war es die Frage nach dem Sinn, die Kernfrage Hiobs: Wie sind das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wurde?

Aus: “Der Schrecken Gottes” von Navid Kermani

Entweder–Oder

ENTWEDER
Und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und Liebe anderes als Essig in der Wunde … Stehet auf, liebe Mit-Verstorbene! Die Nacht ist vorüber, der Tag beginnt wieder seine unermüdete Tätigkeit, niemals, wie es scheint, überdrüssig, immer und ewig sich selbst zu wiederholen.

ODER
So ist also dies, daß wir gegen Gott immer unrecht haben, ein erbaulicher Gedanke; es ist erbaulich, daß wir unrecht haben, erbaulich, daß wir es immer haben. Er erweist seine erbauende Kraft auf zwiefache Weise, teils dadurch, daß er dem Zweifel einhalt tut und den Kummer des Zweifels besänftigt, teils dadurch, daß er zum Handeln ermutigt.

Søren Kierkegaard

Der liebestrunkene Beduine

Ein Beduine lebt in der Salzwüste und kann mit dem ungenießbaren Brackwasser kaum überleben. Nach Jahren des Dürstens findet er zum ersten mal Trinkwasser und glaubt, es handele sich um das Wasser des Paradieses. Vom Glück überwältigt, füllt er seine Schale damit und bricht auf, um sie dem Kalifen Ma’mun zu schenken und belohnt zu werden. Tatsächlich trifft er den Kalifen, der gerade von der Jagd heimkehrt.
– Aus dem höchsten Himmel habe ich ein Geschenk gebracht für den Fürsten der Gläubigen.
– Was denn?
– Das Wasser des Paradieses, ruft der Beduine und hält dem Kalifen die Schale entgegen, darin eine warme, übel riechende Flüssigkeit. Ma’mun erkennt sofort, wie es um den Beduinen bestellt ist. Dennoch trinkt er aus der angebotenen Schale, ohne sich den Ekel anmerken zu lassen. Dann sagt er zum Beduinen:
– Wunderbar hast du das gemacht, so ein herrliches, klares Wasser. Es ist wahrlich das Wasser des Paradieses. Nun wünsche dir, was immer du willst.
Der Beduine schildert ausführlich seine elende Existenz in der Salzwüste und überläßt es dem Kalifen, ob der ihn belohne. Da schenkt der Kalif ihm tausend Dinar. Zu Bedingung stellt er allerdings, daß der Beduine sofort umkehre und sich nach Hause in die Salzwüste begebe, da sein Leben hier in Gefahr sei. Als der Kalif nachher gefragt wird, warum er die Bedingung gestellt habe, antwortet Ma’mun:
– Wäre er weitergezogen, so wäre er auf den Euphrat gestoßen und hätte die Wertlosigkeit seiner Gabe erkannt. Diese Beschämung wollte ich ihm ersparen, denn er kam ja von weit her, um mich zu sehen, und hat gegeben, was er zu geben vermochte.

Nachdem er die Geschichte des Beduinen erzählt hat, kommt Attar noch einmal auf  das weite Elend zurück, das in sein Herz dränge und sich täglich verdichte, so daß er aus Kummer über sich selbst am liebsten stürbe: Jede Nacht bringe ihm tausend neue Gaben aus Blut. Aus dem Salzland der Welt komme er, aus dem Staubwind vergeblicher Bitten, ein Schlauch voller Sehnsuchtstränen auf der Schulter. Möge Gott so gnädig sein wie der Kalif zu dem Beduinen. Und so formuliert der allerletzte Vers im „Buch der Leiden“ eine Hoffnung, die Hoffnung freilich der Hoffnungslosen: daß alles nur ein Alptraum sei.

An der Hand zieh mich, wenn du es kannst,
Aus diesem Wirrwar heraus, als wär‘ nichts gewesen.

Aus: „Der Schrecken Gottes“ von Navid Kermani