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Über das Lernen von Sprache

Interessanter Ausschnitt aus einem Interview mit Daniel Tammet, einem Savant (Inselbegabten):

SPIEGEL ONLINE: Sie lernen extrem schnell. Isländisch haben Sie vor einigen Jahren in nur einer einzigen Woche gelernt – ohne vorher jemals etwas mit der Sprache zu tun gehabt zu haben. Was machen Sie anders als andere Menschen?

Tammet: Die meisten Menschen halten fremde Sprachen für etwas Mysteriöses, Beängstigendes. Sie tun so, als wären Sprachen etwas Künstliches und lernen Listen von Wörtern und Konjugationen, nach dem Motto „ich bin, du bist, er ist“. So kommt man nicht wirklich voran. Ich lerne eine fremde Sprache intuitiv, so ähnlich wie es Kinder tun. Ich versuche, ein Gefühl für die jeweilige Sprache zu entwickeln und Muster zu erkennen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Kleine runde Dinge fangen in Deutsch häufig mit „Kn“ an, Knoblauch, Knopf, Knospe. „Str“ wiederum beschreibt lange, dünne Dinge, Strand, Strumpf, Strahlen. Diese Muster gibt es in allen Sprachen. Wenn man sie erkennt, bekommt man ein Gefühl dafür, wie eine Sprache funktioniert, und kann sie leichter lernen.

SPIEGEL ONLINE: Auf die Idee, Worte nach Formen zu sortieren, wären wir als Muttersprachler allerdings nie gekommen.

Tammet: Heute vielleicht nicht. Aber ich glaube, dass Sie Deutsch, als Sie jung waren, unbewusst genau auf diese Weise gelernt haben. Jeder, der als Kind seine erste Sprache lernt, denkt auf diese Weise. Wenn man später im Leben eine Sprache lernt, ist der Zugang dann allerdings ein anderer. Das Gehirn hat sich verändert. Plötzlich hält man fremde Sprachen für merkwürdig. Aber sie sind es nicht. Jede Sprache ist logisch, weil sie von menschlichen Gehirnen erdacht wurde. Es ist also vollkommen natürlich, nach der Logik einer Sprache zu suchen und diese Logik für das Lernen zu nutzen.

Im Grunde genommen ein Plädoyer für die Verkindlichung des Lernens – und damit gegen den derzeitigen Aufbau von Schule. Vielleicht steckt im System Schule die strukturelle Verkörperung der Arroganz der Erwachsenen (besser: Entwachsenen), sprich: die felsenfeste Überzeugung, zu wissen, was die Welt ausmacht und wie sie funktioniert, und diese kategorische Weisheit jetzt den jüngeren Menschen verbindlich zu vermitteln. (Um das klarzustellen –  Ich bin gar nicht zwingend dafür, Schule in ihrem Wesen zu verändern. Meinetwegen schon, aber mir gehts vor allem darum: Ich möchte, dass dieses Wesen erkannt wird, damit alle Teilnehmenden sich bewusst in und mit diesem System bewegen können.)

Das beste Beispiel für die Arroganz der Wissensbesitzer ist die Sprache. Begriffe bilden das ab, was wir Wirklichkeit nennen. Aber sie tun dies nicht aus sich selbst heraus sondern nur in Kombination mit anderen Begriffen. Erst dadurch entstehen Kategoriegrenzen. Aber es gibt mehr als nur einzelne Begriffe und Grenzen dazwischen; in geäußerter Sprache, also bspw. gesprochen oder geschrieben, spielen die gedanklichen Begriffe mit ihren Grenzen und miteinander – in Form von Silben, Wörtern, Sätzen, Texten… Ok, vielleicht etwas schwere Kost. Man kanns auch reduzieren darauf, was deutlich wird, wenn man verschiedene Sprachen vergleicht: Wörter und deren Bedeutungen sind im Grunde genommen nicht 1:1 zu übersetzen. Das deutsche Wort Wald und das englische Wort wood haben eine große Schnittmenge, aber es gibt Sinn- und Sprachzusammenhänge, in denen die Wörter Unterschiedliches abbilden. Ferdinand De Saussure formuliert dazu als vielgehörter Sprachwissenschaftler die Arbitrarität, das meint die Unmotiviertheit in der Verbindung zwischen Wort und Bedeutung, einfach gesagt (für ihn gibts bei einem Zeichen, bei ihm das Wort als kleinste Einheit, eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite, die ich hier vereinfacht mit Wort und Bedeutung übersetze; wer sichs noch krasser geben will: Freges Zeichenverständnis und seine Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung). Also um das Geplapper auf einen Punkt zu führen: Sprache ist nicht eindeutig, ihre Logik ergibt sich aus ihren Zusammenhängen und ihren Sinn erfährt sie in jeder benutzten sprachlichen Situation. Die Übersetzung von Texten ist deshalb so schwer und eine hohe Kunst, weil eben nicht einzelne Wörter wie in einem Lexikon übersetzt werden müssen, sondern weil zu den Wörtern die inneren sprachlichen Zusammenhänge, die Zusammehänge zwischen Sprache und Gebrauch und die Zusammenhänge zwischen Gebrauch und Situation übersetzt werden müssen. Es muss die sprachliche Kultur, ja die Kultur selbst übersetzt werden.

Das alles bedeutet nun nicht, dass man eine Sprache nicht in der Schule lernen könnte, es bedeutet viel eher, dass man eine spezielle, steife, technokratische Form dieser Sprache lernt – vorausgesetzt es handelt sich um den typischen Sprachenunterricht, in dem man im Klassenraum sprachliche Beispiele behandelt.

Für mich als Haupt- und Realschullehrer an einer großen Gesamtschule mit dreigliedrigem Schulsystem bedeutet es konkret, dass man Sprache nicht unabhängig von der Kultur, also dem tatsächlichen Benutzen von Sprache lernen kann. Ihre innere Logik und ihre äußeren Zusammenhänge lassen sich nicht wahrhaft in der verfremdeten Lernsituation des Klassenzimmers lernen. Was aber geht, ist, den SchülerInnen neben der technokratischen Sprache ein Bewusstsein mitzugeben, dass es keinen fixen sprachlichen Zustand gibt, dass Sprache gelebt ist und sich also verändert – sei es in Rap-Texten oder der Realisierung von Chatausdrücken. Der kulturelle Raum verändert ihren Gebrauch und also auch die Sprache selbst. Dieses Bewusstsein muss man mit in die Lernsituation tragen, damit Sprachlernen nicht als Fremdes, Aufgezwungenes von Kindern wahrgenommen wird sondern als Teil ihrer und unserer Kultur. (Um dieses Prinzip zu erkennen muss man übrigens kein Savant sein…)