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Kategorie: Sprache

Entschuldigung ohne Reue

Zwei Gedanken zu Rüttgers Aussagen über die faulen Rumänen, die, weil sie zu spät zur Arbeit kämen, schlechtere Handys produzieren würden, und die irgendwie auch doofen Chinesen. Auslöser ist der Ausspruch von Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet auf FR-Online, der Rüttgers wie folgt verteidigt:

„Ich finde die Reaktionen völlig überzogen“, sagte Laschet am Montag im ZDF-„Morgenmagazin“. Rüttgers Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen, sei „geradezu absurd“. „Deshalb sollte man die Tassen im Schrank lassen“ und Rüttgers‘ Entschuldigung annehmen, forderte Laschet. Im Engagement für den früheren Nokia-Standort Bochum sei ihm „diese Formulierung durchgegangen“.

Zum einen hat Rüttgers sich nicht entschuldigt: „Ich wollte niemanden beleidigen, wenn das doch geschehen ist, tut mir das leid.“ Die Formulierung nimmt sein eigenes Handeln aus der Verantwortung, eine echte Entschuldigung würde sich nämlich z.B. so anhören: „Es tut mir leid, dass ich jemanden beleidigt habe.“ Zu einer Entschuldigung gehört die Einsicht, einen Fehler begangen zu haben, kurz: Reue. Die kann ich aus dem Wortlaut nicht lesen.

Zum anderen bedeutet Laschets Aussage, die Formulierung sei mit Rüttgers durchgegangen, dass Rüttgers inhaltlich recht habe. Die Gedanken, die dahinter stehen und also nach wie vor in Rüttgers Kopf Raum haben, die er nur kurzzeitig formulierungstechnisch nicht im Zaum hatte, sind doch das eigentliche Problem. Das wirklich Bittere an der Sache ist, dass er Ministerpräsident eines ziemlich großen Bundeslandes ist und da finde ich es schon krass, dass so eine Weltanschauung sich in so einer mächtige Position befinden kann…

Jetzt kann man mir natürlich vorhalten, ich sei, weil ich als Deutschlehrer von Formulierungsangelegenheiten sowieso besessen sei, da sehr verbissen an ein paar unbedeutende Wörter und Phrasen rangegangen. Man muss sich dabei allerdings im Klaren sein, dass Rüttgers seine ‚Völkerkunde‘ nicht nur einmal offenbart hat und Politiker seines Schlages vermutlich die Hälfte ihres Lebens in Rhetorik-Seminaren verbracht haben, um eigene Überzeugungen in Formulierungen zu verpacken, die niemand mehr wirklich versteht.

PS: Man muss doch mal die Tassen im Schrank lassen wird wohl zu meinem persönlichen Sprichwort-Favoriten…

Über das Lernen von Sprache

Interessanter Ausschnitt aus einem Interview mit Daniel Tammet, einem Savant (Inselbegabten):

SPIEGEL ONLINE: Sie lernen extrem schnell. Isländisch haben Sie vor einigen Jahren in nur einer einzigen Woche gelernt – ohne vorher jemals etwas mit der Sprache zu tun gehabt zu haben. Was machen Sie anders als andere Menschen?

Tammet: Die meisten Menschen halten fremde Sprachen für etwas Mysteriöses, Beängstigendes. Sie tun so, als wären Sprachen etwas Künstliches und lernen Listen von Wörtern und Konjugationen, nach dem Motto „ich bin, du bist, er ist“. So kommt man nicht wirklich voran. Ich lerne eine fremde Sprache intuitiv, so ähnlich wie es Kinder tun. Ich versuche, ein Gefühl für die jeweilige Sprache zu entwickeln und Muster zu erkennen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Kleine runde Dinge fangen in Deutsch häufig mit „Kn“ an, Knoblauch, Knopf, Knospe. „Str“ wiederum beschreibt lange, dünne Dinge, Strand, Strumpf, Strahlen. Diese Muster gibt es in allen Sprachen. Wenn man sie erkennt, bekommt man ein Gefühl dafür, wie eine Sprache funktioniert, und kann sie leichter lernen.

SPIEGEL ONLINE: Auf die Idee, Worte nach Formen zu sortieren, wären wir als Muttersprachler allerdings nie gekommen.

Tammet: Heute vielleicht nicht. Aber ich glaube, dass Sie Deutsch, als Sie jung waren, unbewusst genau auf diese Weise gelernt haben. Jeder, der als Kind seine erste Sprache lernt, denkt auf diese Weise. Wenn man später im Leben eine Sprache lernt, ist der Zugang dann allerdings ein anderer. Das Gehirn hat sich verändert. Plötzlich hält man fremde Sprachen für merkwürdig. Aber sie sind es nicht. Jede Sprache ist logisch, weil sie von menschlichen Gehirnen erdacht wurde. Es ist also vollkommen natürlich, nach der Logik einer Sprache zu suchen und diese Logik für das Lernen zu nutzen.

Im Grunde genommen ein Plädoyer für die Verkindlichung des Lernens – und damit gegen den derzeitigen Aufbau von Schule. Vielleicht steckt im System Schule die strukturelle Verkörperung der Arroganz der Erwachsenen (besser: Entwachsenen), sprich: die felsenfeste Überzeugung, zu wissen, was die Welt ausmacht und wie sie funktioniert, und diese kategorische Weisheit jetzt den jüngeren Menschen verbindlich zu vermitteln. (Um das klarzustellen –  Ich bin gar nicht zwingend dafür, Schule in ihrem Wesen zu verändern. Meinetwegen schon, aber mir gehts vor allem darum: Ich möchte, dass dieses Wesen erkannt wird, damit alle Teilnehmenden sich bewusst in und mit diesem System bewegen können.)

Das beste Beispiel für die Arroganz der Wissensbesitzer ist die Sprache. Begriffe bilden das ab, was wir Wirklichkeit nennen. Aber sie tun dies nicht aus sich selbst heraus sondern nur in Kombination mit anderen Begriffen. Erst dadurch entstehen Kategoriegrenzen. Aber es gibt mehr als nur einzelne Begriffe und Grenzen dazwischen; in geäußerter Sprache, also bspw. gesprochen oder geschrieben, spielen die gedanklichen Begriffe mit ihren Grenzen und miteinander – in Form von Silben, Wörtern, Sätzen, Texten… Ok, vielleicht etwas schwere Kost. Man kanns auch reduzieren darauf, was deutlich wird, wenn man verschiedene Sprachen vergleicht: Wörter und deren Bedeutungen sind im Grunde genommen nicht 1:1 zu übersetzen. Das deutsche Wort Wald und das englische Wort wood haben eine große Schnittmenge, aber es gibt Sinn- und Sprachzusammenhänge, in denen die Wörter Unterschiedliches abbilden. Ferdinand De Saussure formuliert dazu als vielgehörter Sprachwissenschaftler die Arbitrarität, das meint die Unmotiviertheit in der Verbindung zwischen Wort und Bedeutung, einfach gesagt (für ihn gibts bei einem Zeichen, bei ihm das Wort als kleinste Einheit, eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite, die ich hier vereinfacht mit Wort und Bedeutung übersetze; wer sichs noch krasser geben will: Freges Zeichenverständnis und seine Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung). Also um das Geplapper auf einen Punkt zu führen: Sprache ist nicht eindeutig, ihre Logik ergibt sich aus ihren Zusammenhängen und ihren Sinn erfährt sie in jeder benutzten sprachlichen Situation. Die Übersetzung von Texten ist deshalb so schwer und eine hohe Kunst, weil eben nicht einzelne Wörter wie in einem Lexikon übersetzt werden müssen, sondern weil zu den Wörtern die inneren sprachlichen Zusammenhänge, die Zusammehänge zwischen Sprache und Gebrauch und die Zusammenhänge zwischen Gebrauch und Situation übersetzt werden müssen. Es muss die sprachliche Kultur, ja die Kultur selbst übersetzt werden.

Das alles bedeutet nun nicht, dass man eine Sprache nicht in der Schule lernen könnte, es bedeutet viel eher, dass man eine spezielle, steife, technokratische Form dieser Sprache lernt – vorausgesetzt es handelt sich um den typischen Sprachenunterricht, in dem man im Klassenraum sprachliche Beispiele behandelt.

Für mich als Haupt- und Realschullehrer an einer großen Gesamtschule mit dreigliedrigem Schulsystem bedeutet es konkret, dass man Sprache nicht unabhängig von der Kultur, also dem tatsächlichen Benutzen von Sprache lernen kann. Ihre innere Logik und ihre äußeren Zusammenhänge lassen sich nicht wahrhaft in der verfremdeten Lernsituation des Klassenzimmers lernen. Was aber geht, ist, den SchülerInnen neben der technokratischen Sprache ein Bewusstsein mitzugeben, dass es keinen fixen sprachlichen Zustand gibt, dass Sprache gelebt ist und sich also verändert – sei es in Rap-Texten oder der Realisierung von Chatausdrücken. Der kulturelle Raum verändert ihren Gebrauch und also auch die Sprache selbst. Dieses Bewusstsein muss man mit in die Lernsituation tragen, damit Sprachlernen nicht als Fremdes, Aufgezwungenes von Kindern wahrgenommen wird sondern als Teil ihrer und unserer Kultur. (Um dieses Prinzip zu erkennen muss man übrigens kein Savant sein…)

Die Kompossibilität des Konfusen

Hab grad nen Artikel auf Spiegel-Online geleesen, in dem Oswald Egger dem Wesen des Unvorstellbaren nachgeht. Ist aus oder zu seinem Buch Diskrete Stetigkeit. Poesie und Mathematik (erschienen 2008 beim nach Berlin ziehenden Suhrkamp-Verlag).
Ich finde solche (sprach-)philosophischen Gedanken ja immer ganz spannend, aber ich raff einfach nicht, warum derartige Texte oft in einer Sphäre eigener Begrifflichkeiten schweben, die höher liegt als jeder andere wissenschaftliche Elfenbeinturm. – Wer soll das denn verstehen:

Die Kompossibilität des Konfusen und auch des Konformen, und die Interimsbilder inzwischen: in Leibniz‘ wechselständiger Fulguration von winzigen, sofort wieder zerfallenden, geborgten Bedeutungen, die wie Augenblicksgötter koexistierender Zustände zwischen Rede und Realität oszillierten

Meine Übersetzung (für Hauptschulphilosophen):
„Wie wir Zusammenhänge herstellen können im Unordentlichen und auch im bereits von anderen Geordneten sowie die Frage, wie wir durch Sprache zu Momenten der Erkenntnis (= Augenblicksgötter koexistierener Zustände zwischen Rede und Realität) gelangen“

Und das ist ne Zwischenüberschrift… Ich frag noch mal: Wer soll das raffen? Vielleicht ist das ja auch ein Philosophenwitz: Das ist deren Geheimsprache und der Inhalt dieses Satzes heißt im Grunde genommen: „Wer das liest, ist doof.“ …

Im Grunde genommen will Egger – so vermute ich – einfach sagen, dass es eine interne Logik in der Sprache gibt, wie sie sich selbst zusammenhält und wie sie mit der Realität in Kontakt kommt bzw. ob sie überhaupt die Realität berührt. Vielleicht will er ja auch was ganz anderes sagen. Er hat hier halt Konfusion komponiert, zumindest in mir.

Präzision, die eitel ist, führt zur geordneten Konfusion. Wer wahrhaft verstehen will, muss das Wesen der Dinge reduzieren, herunterbrechen auf die Wahrheit. Eggers Essay ist große sprach-mathematische Kunst, wer weiß. Vielleicht aber auch nicht. Ich kanns nicht beurteilen. – Und dass ich es nicht beurteilen kann, ist mein Vorwurf an ihn.

Aber vielleicht bin ich auch einfach unfair, weil ich die Dinge mit meinem kindlichen Idealismus sehe, der auf dem festen Glauben beruht, dass die Wahrheit nichts Exklusives ist.

PS: Ich mag das Roboterbild, das hat so was Romantisches…

Kurze Gedanken zu Autismus und dem Netz

ich will kein inmich mehr sein ich habe augen und kann sehen deshalb habe ich schreckliche angst gehabt ich habe deshalb nichts mehr sagen wollen ich hatte angst vor ende des weges und der gemenschseinheit zu ende
7.3.91 (Birger Sellin)

Diese Zeilen sind von Birger Sellin, einem Autisten, der mit Hilfe Computergestützten Kommunikation allmählich seinem Inneren ein Äußeres geben konnte. Wirklich lesenswert, sein Buch. Ich hab mich beim Leesen stark an ein Gedicht von Rainer Werner Faßbinder erinnert gefühlt:

Nietzsche
Eine Sprache aus Trauer
aus Licht eine Mauer
Gedanken aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Lebendige Leichen
voll Kraft und Gewalt
Von Gott keine Zeichen
so schön von Gestalt

Eine Sehnsucht aus Tränen
und Perlen von Zähnen
Gesichter Aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Wird Schönheit versteigert
Nach Maßen gemessen
wird Freiheit verweigert
ganz einfach vergessen
Eine Schale aus Schmerzen
vom Schmerz brechen Herzen
Muskeln aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Container an Ketten
und die Haut die dich quält
kein Gott dich zu retten
vor dem Feuer das fehlt

Eine Sonne aus Eisen
mit Qual lächelnd reisen
Götter aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Ok, ich kannte es nicht, bevor ich nicht „Eine eigene Geschichte“ auf der Blumfeld-Platte „L’Etat Et Moi“ gehört hatte, in dem es heißt:

Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und Stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr

Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem er sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer

Auf jeden Fall wirkt Sellins Sprache vom selben Gefühl berührt wie die Sprache dieser Lyrik. Und das Thema Autismus lässt mich auch seit einer ganzen Weile nicht mehr los. In Kierkegaards „Schattenrisse“ in Entweder–Oder findet sich auch eine Passage über die reflektierte Trauer, die in all ihren Facetten ziemlich genau ein autistisches Gefühl beschreibt, ohne es zu wollen:

Wie der Kranke in seinem Schmerz sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite wirft, so ist auch die reflektierte Trauer hin und her geworfen, um ihren Gegenstand und ihren Ausdruck zu finden. Wenn die Trauer Ruhe hat, so wird das Innere der Trauer auch allmählich sich nach außen durcharbeiten, im Äußeren sichtbar und somit Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Wenn die Trauer Muße und Ruhe in sich selber hat, so setzt die Bewegung von innen nach außen ein, die reflektierte Trauer bewegt sich nach innen, gleich dem Blut, das aus der Oberfläche flieht und dies nur durch hineilende Blässe ahnen lässt. Die reflektierte Trauer bringt keine wesentliche Veränderung im Äußeren mit sich; selbst im ersten Augenblick der Trauer hastet sie schon nach innen, und nur ein sorgfältigerer Beobachter ahnt ihr Verschwinden; später wacht sie peinlich darüber, dass das Äußere so unauffällig wie möglich sei.
Indem sie nun solchermaßen sich nach innen wendet, findet sie schließlich ein Gehege, ein Innerstes, wo sie meint bleiben zu können, und nun beginnt sie ihre einförmige Bewegung. Wie das Pendel der Uhr, so schwingt sie hin und her und kann keine Ruhe finden. Sie fängt immer wieder von vorne an und überlegt wieder, verhört die Zeugen, vergleicht und überprüft die verschiedenen Aussagen, was sie schon hundertmal getan hat, aber nie wird sie fertig. Das Einförmige bekommt mit der Zeit etwas Betäubendes. Wie der eintönige Fall der Dachtraufen, wie das eintönige Schnurren des Spinnrades, wie das monotone Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch in einer Etage über uns mit gemessenen Schritten hin und her geht, betäubend wirken, so findet die reflektierte Trauer schließlich Linderung in dieser Bewegung, die als eine illusorische Motion ihr zur Notwendigkeit wird. Endlich ergibt sich ein gewisses Gleichgewicht; das Bedürfnis, die Trauer zum Durchbruch kommen zu lassen, sofern es sich gelegentlich geäußert haben mag, hört auf, das Äußere ist still und ruhig, und tief innen in ihrem kleinen Winkel lebt die Trauer gleich einem wohl verwahrten Gefangenen in einem unteridischen Kerker, dort lebt sie ein Jahr ums andere dahin in ihrer einförmigen Bewegung, wandert auf und ab in ihrem Verschlag, nimmer müde, den langen oder kurzen Weg der Trauer zurückzulegen.
Der Grund dafür, dass es zu einer reflektierten Trauer kommt, kann teils in der subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, teils in dem objektiven Leid oder dem Anlass zur Trauer. Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jede Trauer in reflektierte Trauer verwandeln, seine individuelle Struktur und Organisation macht es ihm unmöglich, sich die Trauer ohne weiteres zu assimilieren. Dies ist indessen eine Krankhaftigkeit, die nicht sonderlich zu interessieren vermag, da auf diese Weise jede Zufälligkeit eine Metamorphose erfahren kann, durch die sie zu einer reflektierten Trauer wird. Etwas anderes ist es, wenn das objektive Leid oder der Anlass der Trauer im Individuum selbst die Reflexion erzeugt, welche die Trauer zu einer reflektierten Trauer macht. Dies ist überall da der Fall, wo das objektive Leid in sich nicht fertig ist, wo es einen Zweifel zurücklässt, wie dieser im übrigen auch immer beschaffen sein möge. Hier eröffnet sich dem Denken alsbald eine große Mannigfaltigkeit, um so größer, je nachdem einer viel erlebt und erfahren oder er Neigung hat, seinen Scharfsinn mit derartigen Experimenten zu beschäftigen. Es ist indessen keineswegs meine Absicht, die ganze Mannigfaltigkeit durchzuarbeiten, eine einzige Seite nur möchte ich ans Licht ziehen, so wie sie sich meiner Beobachtung gezeigt hat. Wenn der Anlass der Trauer ein Betrug ist, so ist das objektive Leid so beschaffen, dass es im Individuum die refletkierte Trauer erzeugt. Ob ein Betrug wirklich ein Betrug ist, lässt sich oft äußerst schwer feststellen, und doch hängt alles davon ab; solange es zweifelhaft ist, solange findet die Trauer keine Ruhe, sondern muss fortfahren in der Reflexion auf und ab zu wandern. Wenn ferner dieser Betrug nichts Äußerliches betrifft, sondern das ganze innere Leben eines Menschen, seines Lebens innersten Kern, so wird die Wahrscheinlichkeit für das Fortdauern der reflektierten Trauer immer größer.

Ich gebe zu, dass es mittlerweile keine „Kurzen“ Gedanken mehr sind. (Obwohl ich bislang eigentlich nur zitiert hab…) Und worauf ich eigentlich hinaus wollte, hab ich bislang noch nicht einmal erwähnt:
Ich hab neulich irgendwo mal was von einer Studie geleesen, die Hinweise darauf gegeben haben soll, dass mit der steigenden Computer- und Internetnutzung auch autistische Verhaltensweisen häufiger vorkämen. Man kann bei Autismus nicht wirklich von einer Krankheit sprechen. Um so interessanter, dass ich mich in so manchen autistischen Verhaltensweisen wiederfinde – nicht dass ich mich als Autist sehe oder auch nur behaupten würde, ich hätte sowas wie das Asperger-Syndrom. Nein, es ist vielmehr, dass ich glaube, dass prinzipiell jeder Mensch jedes Verhalten in unterschiedlich starker Ausprägung bei sich vorfinden kann, wenn man nur lange genug in sich sucht. Und so dachte ich auch bei mir, dass ich – seit ich mich um diese Internetseite bemühe – irgendwie im Netz mehr aus mir raus gehe. Obwohl ich hier die ganzen Sachen in die Welt hinausposaune, bring ich manchmal nicht die einfachsten Worte meinem persönlichen Gegenüber über die Lippen. (Vielleicht bin ich auch manchmal einfach „behindert“ wie meine Hauptschüler sagen würden…) Ich glaube, dass das im Wesentlichen daran liegt, dass ich, obwohl ich weiß, dass die Dinge hier vielleicht von ein paar Leuten geleesen werden, Leuten, die mich auch persönlich kennen, niemandem ins Angesicht sehen muss, während ich rede.
Autisten meiden in der Regel direkten Blickkontakt. Für manch einen wäre es eine Strafe, ihn zu zwingen, einem in die Augen zu sehen. Das Internet hat den Vorteil der absoluten Anonymität – nicht so sehr des eigenen Selbst, sondern vielmehr des Gegenübers. Der geheimnisvolle Leser ist glaube ich der entscheidende Punkt, warum es einem in diesen moderneren Kommunikationskanälen leichter fällt, sein Inneres zu entäußern. An anderer Stelle tut man das nur, wenn man sein Gegenüber ausgesprochen gut kennt und ihm vertraut.

ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge
14.3.91 (Birger Sellin)

Herausgeberfiktion bei Werther und Stiller

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Herausgeberfiktion bei Werther und Stiller

Exposee

Die Leiden des jungen Werthers? – ein sonderbarer Titel! – und von wem? – Von wem? das könnt ich ihnen wohl sagen, wenn ich mich berechtigt dazu glaubte, so aber mag ich nicht: – und wofür thät ichs? – Das Buch wird gesucht, gelesen, und geschätzt, von einer sympathischen Seele auch durchgefühlt werden – ohne daß es den Namen seines Verfassers zur Empfehlung nöthig hätte. – – (Werther-Rezension aus dem Jahr 1774, zit. n. KLAUSNITZER 2004, S. 120)

[Der Verfasser als Herausgeber, das] ist ein alter Novellistenkniff, gegen den ich weiter nichts einzuwenden hätte, wenn er nicht dazu beitrüge, meine Stellung so verwickelt zu machen, indem der eine Verfasser schließlich in dem andern drinsteckt wie die Schachteln in einem chinesischen Schachspiel. […]
Doch ich habe meine Stellung als Herausgeber vielleicht schon dazu mißbraucht, die Leser mit meinen Betrachtungen zu belasten.
Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen von bestimmten Personen gegensätzliche Lebensanschauungen vorgetragen werden. Das endet dann zumeist damit, daß der eine den anderen überzeugt. Statt daß die Anschauung für sich selbst sprechen muß, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, daß der andere überzeugt worden ist. (Victor Eremita im Vorwort von Entweder – Oder, KIERKEGAARD 1843, S. 18 und 24)

Zu jener Zeit kannte ich die vorliegenden Aufzeichnungen noch nicht, wußte allerdings, daß Stiller in der Untersuchungshaft etwas wie ein Tagebuch geführt hatte. Es ist nicht der Sinn dieses Nachwortes, daß ich mich in zahllosen Berichtigungen ergehe. Die Mutwilligkeit seiner Aufzeichnungen, seine bewußte Subjektivität, wobei Stiller auch vor gelegentlichen Fälschungen nicht zurückschreckt, scheinen mir offenkundig genug zu sein; als Rapport über ein subjektives Erlebnis mögen sie redlich sein. Das Bildnis, das diese Aufzeichnungen von Frau Julika geben, bestürzte mich; es verrät mehr über den Bildner, dünkt mich, als über die Person, die von diesem Bildnis vergewaltigt worden ist. Ob nicht schon in dem Unterfangen, einen lebendigen Menschen abzubilden, etwas Unmenschliches liegt, ist eine große Frage. Sie trifft Stiller wesentlich. Die meisten von uns machen zwar keine Aufzeichnungen, aber wir machen auf eine spurlosere Weise vielleicht dasselbe, und das Ergebnis wird in jedem Fall bitter sein. (aus dem Nachwort Rolfs, Staatsanwalt gegen aber auch Freund von Stiller, FRISCH 1954, S. 406 f.)

Literatur

– DIEM, HERMANN und REST, WALTER: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil I und II. DTV: München 2005.

– FRISCH, MAX: Stiller. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1954 (1973).

– GOETHE, JOHANN WOLFGANG: Die Leiden des jungen Werthers. 1774. In: LUSERKE, MATTHIAS (Hg.): Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Studienausgabe. Reclam: Stuttgart 1999.

– KIERKEGAARD, SØREN: Entweder – Oder. 1843. In: DIEM, HERMANN und REST, WALTER: Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil I und II. DTV: München 2005.

– SCHMITZ, WALTER: Materialien zu Max Frisch ›Stiller‹, Bd. 1 und 2. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1978.

– KARLMAY.LEO.ORG: Vom ›Roten Gentleman‹ zum ›Homme de la Prairie‹
URL: http://karlmay.leo.org/kmg/seklit/JbKMG/1990/170.htm#a51 (03.04.2008)

Hypertext

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Hypertext

1 Voraussetzungen

[The human mind] operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain. […] Man cannot hope fully to duplicate this mental process artificially, but he certainly ought to be able to learn from it. In minor ways he may even improve, for his records have relative permanency. The first idea, however, to be drawn from the analogy concerns selection. Selection by association, rather than indexing, may yet be mechanized. One cannot hope thus to equal the speed and flexibility with which the mind follows an associative trail, but it should be possible to beat the mind decisively in regard to the permanence and clarity of the items resurrected from storage. (BUSH 1945)

1945 stellte VANNEVAR BUSH, u.a. wissenschaftlicher Berater von US-Präsident Roosevelt (vgl. ACMI.NET), in As We May Think, einem Artikel des Atlantic Monthly, das Konzept des Memex (Akronym für memory extender) vor (Abb. 1). Dieser Apparat sollte in der Lage sein, dem Benutzer aus einer ›Datenbank‹ (per Mikrofilm) jeweils gewünschte Dokumente bereitzustellen, in denen er beliebig blättern aber auch nach Bedarf zwischen einzelnen Dokumenten springen können sollte . Mit seiner ›Vision‹ kam BUSH heutigen Vorstellungen von Hypertext recht nahe.
Der Begriff Hypertext wurde allerdings erst zwanzig Jahre später von THEODOR HOLM NELSON geprägt, unter dem er ein neues Medium versteht: »the combination of natural-language text with the computer’s capacities for interactive, branching or dynamic display.« (NELSON 1967, zit. n. HENDRICH 2003, S. 30) Von diesen Überlegungen ausgehend ließen ihn schließlich weiterführende Gedanken 1982 in Literary Machines eine ›Maschine‹ konzipieren, die er Xanadu nennt (Abb. 2; vgl. HENDRICH 2003, S. 38 f.; vgl. EASTGATE.COM). ANDREAS HENDRICH beschreibt NELSONs Entwurf in seiner Dissertation Spurenlesen – Hyperlinks als kohärenzbildendes Element in Hypertext folgendermaßen:

Was NELSON damit vorhat, ist so revolutionär, dass es sich wohl gerade aus diesem Grund bisher nicht durchgesetzt hat. Zunächst hat es natürlich oberflächlich alle Funktionen, die man erwarten wollte, Textverarbeitung, Speicherung, Verlinkung, ›parallele‹ Fensterdarstellung, Einbindung von Bild, Ton etc. Komplett neu sind aber drei Dinge: das Prinzip der Einmaligkeit, ein automatisches Tantiemensystem und schließlich das Adressierungs- und Versionierungsschema. […]
Einmaligkeit bedeutet, dass alles, Text, andere Medien, Link- und Kombinationsbeschreibungen, nur einmal auf einem zentralen Server vorhanden ist. Dokumente werden also beim Benutzer auf dem Bildschirm nur zusammengesetzt, das Kopieren / Einfügen-Paradigma ist aufgelöst in dem Sinne, dass nur referiert wird und keine echten Kopien angefertigt werden (müssen). Jedem Text ist ein ›Eigentümer‹ zugewiesen, der Autor, oder genauer gesagt, derjenige, der den Text in den Server lädt, und dieser erhält beim Aufruf seiner Texte jeweilig Tantiemen dafür.
Die Einmaligkeit fordert das Erhalten von Dokumenten, d.h. jedes Textstück, das für sich in den Server geladen wird bekommt eine einmalige Adresse zugewiesen, die sich niemals ändert. Bei Einfügungen, internen Löschungen oder anderen Veränderungen wird der editierte Text erneut unter der gleichen Adresse gespeichert. Daneben können Versionierungen von Einheiten angeboten werden, die über ein separates Protokoll angesprochen werden können. Hier tritt der Kern von NELSONs Vision, des ›Docuverse‹ hervor, oder um es einfacher zu sagen: »Tumbling Through the Docuverse – A Write-Once Address System of Forking Multipart Integers Secifying A Master Ever-Growing Tree-Address Space«. Vielleicht auch einer der Gründe, warum, trotz des immensen Potentiales des Systems, sich Xanadu bis heute nicht hat durchsetzen können. (HENDRICH 2003, S. 38)

Das Konzept von NELSON ging neben dem ›großen Bruder‹, dem World Wide Web (WWW), unter. Dieses ist »ein client/server-basisertes distribuiertes Hypertextsystem«, das »über die Markup-Sprache HTML [=Hyper-Text-Markup-Language], die sowohl Layoutfunktionen als auch Möglichkeiten der Verlinkung zur Verfügung stellt«, realisiert ist. HTML ist relativ einfach strukturiert, sodass »jeder, der möchte, einen Rechner und ein Serverprogramm hat«, Daten zur Verfügung stellen kann (HENDRICH 2003, S. 39 f.). Genau dies stellt wohl die Voraussetzung für den enormen Erfolg des WWW dar, das uns usern heute als selbstverständlich erscheint. Aus der Perspektive von Memex und Xanadu kann man mit HENDRICH allerdings zu folgender Erkenntnis kommen: »Konstruiert wurde und wird mit dem WWW eine neue Maschine gigantischen Ausmaßes, die alle Konzepte und Vorstellungen von Maschinen mit klar umrissenen Grenzen und Funktionen sprengt.« (HENDRICH 2003, S. 40)

2 Hypertext

Was aber macht Hypertext aus literaturtheoretischem Blickwinkel aus? Im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie findet sich folgendes Verständnis:

Hypertext/Hypertextualität (gr. hypér: über; lat. texere: weben, flechten), Hypér verweist auf die metatextuelle Ebene des Hypertexts, d.h. auf die einem elektronisch abgespeicherten Text übergelagerte Struktur von elektronischen Vernetzungen mit weiteren Texten. […] Nelson (1980, S.2) definierte Hypertext als elektronische Form des »non-sequential writing«. Nach Nelson ist Hypertext ein elektronisch verknüpftes, multilineares und multisequentielles Netzwerk von Textblöcken (Lexien), das dem Leser erlaubt, interaktiv mit dem(n) Text(en) in Kontakt zu treten, elektronischen Verbindungen zu folgen oder selbst solche in Form eigener Lexien zu schaffen. Der Hypertext erzeugt durch die Möglichkeit von Verbindungen (links) einen Dialog zwischen Text und weiteren Kontexten/Texten; der Hypertext verliert für Nelson seine Funktion als isolierter Text, wie ihn das traditionelle Buch darstellt. […] (NÜNNING 2001, S. 261)

Diese Definition greift im Wesentlichen NELSONs Verständnis von Hypertext als Medium auf, als wesentliche Vorstellung erscheint hier die Eigenschaft des »elektronisch verknüpften, multilinearen und multisequentiellen Netzwerks«, das den Text »durch die Möglichkeit von […] links« von seiner Linearität zu ›befreien‹ vermag. Bei der Betrachtung dieser Begriffsbestimmung werden jedoch zwei Probleme deutlich: Zum einen genügt es der literaturtheoretischen Perspekive nicht, Hypertext als bloßes Medium zu betrachten, zum anderen wird nicht klar, was überhaupt Text ist – dessen Bestimmung (oder besser: ›Begriffsannäherung‹ ) als Basis der Definition von Hypertext zugrunde liegen sollte. Trotzdem lässt sich grundsätzlich festhalten: »Es sind die Hyperlinks, die in Hypertext eine Menge einzelner Textfragmente zu einem Ganzen binden.« (HENDRICH 2003, S. 3)
Text, was ist das? Im Lexikon findet sich dazu: »Text (lat. textus: Gewebe, Geflecht), Instrument der Kommunikation mittels Sprache […]« (NÜNNING 2001, S. 625). Diese Definition ist nicht wirklich befriedigend, liefert aber einen interessanten Hinweis auf den Ursprung: Text als Gewebe. In De Grammatica, Teil der Etymologiae schreibt ISIDOR VON SEVILLA über den Begriff oratio:

Oratio dicta quasi oris ratio. Nam orare est loqui et dicere. Est autem oratio contextus verborum cum sensu. Contextus autem sine sensu non est oratio, quia non est oris ratio. Oratio autem plena est sensu, voce et littera. (zit. n. PENELOPE.UCHICAGO.EDU, vgl. HENDRICH 2003, S. 4)

Hier ist oratio (also die ›Vernunft des Mundes‹) »eine Zusammensetzung von Wörtern mit Sinn«. Es lassen sich darüber hinaus noch viele weitere Verständnisse vom Begriff Text differenzieren; entscheidend soll hier sein, was HENDRICH auf den Punkt bringt:

Das Mysterium scheint sich in der Frage zu verbergen, wie wir es schaffen, etwas – über das wir als unser Eigenes reflektieren können, das scheinbar unabhängig vom Zustand unseres materiellen Körpers oder der materiellen Welt existiert – in eine materielle Form zu veräußern. Und wie sind wir in der Lage – nicht über ein ›stilles Verstehen in Übereinkunft der Herzen‹ – sondern eben über das Produkt dieser Veräußerung an der Innenwelt anderer teilzuhaben, oder sich sogar Teile davon anzueignen? (HENDRICH 2003, S. 5)

Dem gegenüber wirft er Fragen danach auf, was sich mit der Entwicklung von Hypertext in Bezug auf ›herkömmlichen‹ Text verändert hat:

Was aber, wenn sich durch ein kleines ›hyper-‹ die zugrunde liegenden Kontrollstrukturen konventionalisierter Formen von Rationalität aufzulösen beginnen? Wenn die Ordnung der Dinge nicht mehr so eindeutig ist, in einer Zeit, da den Autoren die Kontrolle über ihren Text entgleitet? Wenn eherne Unterscheidungen von Statteinander und Nacheinander zu fallen scheinen? Wenn die Grenzen zwischen Autor, Text und Leser zu verschwinden scheinen? […] Weitersurfen? (HENDRICH 2003, S. 1)

Wenn wir uns hingegen den Textbegriff bei so genannten Poststrukturalisten wie ROLAND BARTHES anschauen, dürfen wir allerdings zu zweifeln beginnen, ob »eherne Unterscheidungen von Statteinander und Nacheinander«, ob »die Grenzen zwischen Autor, Text und Leser« erst mit der Entwicklung von Hypertext »zu verschwinden scheinen«. BARTHES schreibt 1968 in Der Tod des Autors :

Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die Botschaft des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen (écritures), von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur. (BARTHES 2000, S. 190)
Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text ›entziffern‹ (›dechiffrer‹) zu wollen. […] Die vielfältige Schrift kann [..] nur entwirrt, nicht entziffert werden. Die Struktur kann zwar in allen ihren Wiederholungen und auf allen ihren Ebenen nachvollzogen werden (so wie man eine Laufmasche ›verfolgen‹ kann), aber ohne Anfang und Ende. Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durschstoßen werden. (BARTHES 2000, S. 191)

Das Bild, das BARTHES von Text entwickelt, der »nur entwirrt, nicht entziffert werden« kann, drängt sich ebenso für das Verständnis von Hypertext auf. Man fühlt sich förmlich genötigt, die durch links verbundenen Textfragmente im Hypertext als ein »Gewebe von Zitaten« zu sehen, welches der Leser im ›herkömmlichen‹ (sprich: vermeintlich linearen) Text selbst assoziativ erzeugt (wir denken auch an BUSHs Überlegungen zum human mind). Dadurch wird klar: Die Non-Linearität scheint nicht das Neue am Hypertext zu sein – denn der Weg assoziativer Verknüpfungen beim Lesen wird nach BARTHES schon immer vom Leser geleistet . Neu scheint hingegen die Sichtbarmachung bzw. das Voraugenführen dieser assoziativen Verknüpfungen durch links zu sein (ob der konkrete Leser ihnen folgt oder nicht, ist eine andere Frage). Insofern läge es nahe, dass Überlegungen zu Hypertext poststrukturalistischen Ansätzen, wie sie u.a. von BARTHES vertreten werden, Auftrieb verleihen, schließlich wird im Hypertext theoretisch Erdachtes erfahrbar dargestellt.

3 Resümee/Kritik

So enthüllt sich das totale Wesen der Schrift. Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. (BARTHES 2000, S. 192)

Der Text als Netzwerk, dem Sinnstiftung allein durch die Verknüpfungsleistung des Lesers widerfährt, scheint sich als Inbegriff eines poststrukturalistischen Verständnisses á la BARTHES im Hypertext zu offenbaren. Aber sind wir bereit, diesem Verständnis zu folgen? Schließlich tötet er nicht nur den Autor, er löst auch die Identität des Subjekts auf, indem er die »Einheit des Textes« nicht im Ursprung sondern im Zielpunkt verortet, »wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann«. Mehr noch, »der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biografie, ohne Psychologie« (BARTHES 2000, S. 192). BARTHES’ ›Leser‹ gleicht so gesehen viel eher Xanadu, NELSONs ›Maschine‹, die als Unified Tissue of Storage, als Gewebe von Speicher Knotenpunkte zentral im Netzwerk verortet, verknüpft und verfügbar macht . Oder um mit ROMAN ZENNER die Kritik abschließend etwas verhaltener zu äußern: »Apart from postmodern experiments, the largest audience is still quite happy with an author who is very much alive and has an interesting story to tell.« (ZENNER 2005, S. 205)

4 Literatur

– BARTHES, ROLAND: Der Tod des Autors. In: JANNIDIS, FOTIS et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 185-193. Reclam: Stuttgart 2000.

– BUSH, VANNEVAR: As We May Think. Artikel erschienen in The Atlantic Monthly, Juli 1945. URL: http://www.theatlantic.com/doc/194507/bush (01.04.2008)

– HENDRICH, ANDREAS: Spurenlesen – Hyperlinks als kohärenzbildendes Element in Hypertext. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2003.
URL: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/archive/00003054/01/Hendrich_Andreas.pdf (01.04.2008)
urn:nbn:de:bvb:19-30544

– JANNIDIS, FOTIS et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Reclam: Stuttgart 2000.

– KLAUSNITZER, RALF: Literaturwissenschaft: Begriffe – Verfahren – Arbeitstechniken. Walter de Gruyter: New York/Berlin 2004.

– NÜNNING, ANSGAR (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturwissenschaft, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Metzler: Stuttgart/Weimar 2001.

– RENNER, ROLF GÜNTER und HABEKOST, ENGELBERT (Hg.): Lexikon literaturtheoretischer Werke. Alfred Kröner: Stuttgart 1995.

– WIRTH, UWE: Wen kümmert’s, wer spinnt? Gedanken zum Schreiben und Lesen im Internet.
URL: http://www.diss.sense.uni-konstanz.de/lesen/wirth.htm (02.04.2008)

– ZENNER, ROMAN: Hypertextual Fiction on the Internet: A Structural and Narratological Analysis. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Philosphischen Fakultät der RWTH Aachen, 2005.

– ACMI.NET: Vannevar Bush
URL: http://www.acmi.net.au/AIC/BUSH_BERRNIER.html (01.04.2008)

– EASTGATE.COM: Literary Machines
URL: http://www.eastgate.com/catalog/LiteraryMachines.html (01.04.2008)

– PENELOPE.UCHICAGO.EDU: Isidore of Seville: The Etymologies (or Origins)
URL: http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/Texts/Isidore/home.html (02.04.2008)